Die Bücher und das Paradies
die Konstruktion eines mythos
halten, der ein effizientes ergon hervorbringt, ist der Absturz ins Massenmediale unvermeidlich. Nehmen wir
noch einmal Poe: Läsen wir nur die Seiten, die er über die
Erzeugung der gewünschten Emotionen geschrieben hat,
könnten wir glauben, wir hätten es mit einem
Drehbuchschreiber von Dallas zu tun. In der Absicht, ein Gedicht zu schreiben, das in etwas mehr als hundert
Versen ein Gefühl von Melancholie erzeugt (»denn
Melancholie ist die legitimste aller poetischen Tonarten«),
fragt er sich, welcher unter allen melancholischen Stoffen
der melancholischste sei, und kommt zu dem Schluß: der
Tod, und der poetischste all dieser melancholischsten
Stoffe sei der Tod einer schönen Frau, »fraglos der
poetischste Stoff der Welt«.
Hätte Poe sich allein an diese Prinzipien gehalten, hätte
er Love Story geschrieben. Zum Glück wußte er, daß der Plot als dominierendes Element jeder Story mit anderen
Elementen abgestimmt und temperiert werden muß. Er
entging der massenmedialen Falle ( ante litteram ), weil er andere formale Prinzipien hatte. Daher die Berechnung der
Verse, die Analyse der Musikalität des Nevermore , der
kalkulierte visuelle Kontrast zwischen der weißen
Pallasbüste und der Schwärze des Raben und all das
übrige, was The Raven zu einem dichterischen Werk und nicht zu einem Horrorfilm macht.
Aber wir sind noch bei Aristoteles. Poe kalkulierte eine
richtige und organische Mischung aus lexis , opsis , 304
dianoia , ethos und melos . So bepackt man das Skelett eines mythos mit Fleisch. Die Massenmedien können uns zum Weinen bringen und trösten, aber gewöhnlich
erlauben sie uns nicht, uns durch den Genuß eines
wohlgeformten »Großen Tieres« zu läutern. Wenn sie
doch einmal so weit gelangen – und für mich ist das
fraglos bei John Fords Stagecoach der Fall –, dann haben sie tatsächlich die Ideale der Poetik verwirklicht.
Wir kommen zur letzten Ambiguität. Die Poetik ist das
Werk, in dem erstmals eine Theorie der Metapher
entwickelt wird. Ricœur bemerkt15 (unter Verweis auf
Derrida, für den bei Aristoteles das Definierte im
Definierenden impliziert ist), daß Aristoteles, um die
Metapher zu erklären, eine Metapher bildet, die er sich aus
dem Bereich der Dynamik entleiht. Tatsächlich stellt uns
die aristotelische Theorie vor das Grundproblem jeder
Philosophie der Sprache, nämlich ob die Metapher eine
Abweichung von einem unterliegenden Buchstabensinn
oder der Geburtsort jeder Nullstufe der Literatur ist.
Wenn es auch wahr ist, daß ich einer Theorie der
Interpretation treu bleibe, die angesichts schon geschrie-
bener Texte eine Nullstufe des Buchstabensinns voraus-
setzen muß, von der die Metapher dann die zu inter-
pretierende Abweichung ist, so ist es doch ebenso wahr,
daß unter dem Gesichtspunkt der Glottogonie, also wenn
wir den Blick auf die Sprachentstehung richten (sei’s auf
den Ursprung der Sprache, wie es Vico wollte, oder auf
den Ursprung jedes einzelnen Textes), der Moment ins
Auge gefaßt werden muß, in dem Kreativität sich nur um
den Preis der metaphorischen Vagheit einstellen kann, mit
15 Paul Ricœur, Die lebendige Metapher , München, Fink, 1986.
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der ein noch unbekanntes oder unbenanntes Objekt
benannt wird.
Die kognitive Kraft der Metapher, auf der Aristoteles
insistierte (wenn auch nicht in der Poetik , sondern in der Rhetorik ), zeigt sich sowohl darin, daß die Metapher uns etwas Neues vor Augen hält, indem sie mit einer schon
vorhandenen Sprache operiert, als auch darin, daß sie uns
einlädt, die Regeln einer künftigen Sprache zu entdecken.
Jedoch – letzte aristotelische Erbschaft – die häretischen
Strömungen der von Chomsky geprägten Linguistik,
besonders George Lakoff, formulieren das Problem heute
noch radikaler, auch wenn diese Radikalität schon bei
Vico vorhanden war: Das Problem ist nicht so sehr, zu
sehen, was die kreative Metapher mit einer schon beste-
henden Sprache macht, sondern daß die schon bestehende
Sprache nur verstanden werden kann, wenn man in ihrem
Wortschatz die Präsenz von vagueness , von fuzziness , von metaphorischer Bastelei akzeptiert.16
Es ist kein Zufall, daß Lakoff zu den Autoren gehört, die
angefangen haben, auf den Fragmenten einer Semantik, in
der sich die Definition auf nicht weiter teilbare Eigen-
schafts-Atome gründete, eine Semantik zu entwickeln, in
der die Definition in Form einer Folge von
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