Die Bücher und das Paradies
immer wieder zurückblättern muß, um fest-
zustellen, wo man sich befindet …« Die Farben von Sylvie
seien nicht die eines klassischen Pastells; es sei vielmehr
»eine Purpurfarbe, die einer Purpurrose aus purpurnem
oder violettem Samt, das Gegenteil der Aquarelltöne des
gemäßigten Frankreichs«. Sylvie sei kein Muster an
abgewogener Anmut, sondern ein Muster an krankhafter
Besessenheit. Die Atmosphäre von Sylvie sei »bläulich
und purpurfarben«, aber diese Atmosphäre liege nicht in
den Worten, sondern zwischen den Worten, »wie der
Nebel eines Morgens in Chantilly«.2
Vielleicht hatte ich es mit zwanzig noch nicht so sagen
können, aber ich tauchte aus der Lektüre wie mit
verklebten Augen auf, nicht so sehr, wie es in Träumen
vorkommt, sondern eher wie bei jenem langsamen
morgendlichen Erwachen aus einem Traum, wenn sich die
ersten bewußten Reflexionen noch mit den letzten Resten
des Traums vermengen und die Grenze zwischen Traum
und Wirklichkeit verschwimmt (oder noch nicht über-
wunden ist). Schon ohne Proust gelesen zu haben, war mir
klar, daß ich einen Nebeleffekt verspürt hatte.
Ich habe die Erzählung viele Male im Laufe der letzten
fünfundvierzig Jahre gelesen, und jedesmal habe ich mir
selbst und den anderen zu erklären versucht, warum sie
2 Marcel Proust, »Gérard de Nerval« in Gegen Sainte-Beuve [dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1962, S.
51
–
55,
A. d. Ü.].
43
diese Wirkung auf mich ausübt. Jedesmal glaubte ich es
entdeckt zu haben, und doch erlag ich jedesmal, wenn ich
sie wiederzulesen begann, erneut diesem Nebeleffekt.
Im folgenden werde ich zu klären versuchen, warum und
wie es dem Text gelingt, seine Nebeleffekte zu pro-
duzieren. Wer mir dabei folgen will, braucht jedoch nicht
zu fürchten, daß ihm der Zauber von Sylvie abhanden
kommt, weil er zuviel darüber weiß. Im Gegenteil, je mehr
er darüber weiß, desto besser wird es ihm gelingen, beim
Lesen erneut ins Staunen zu geraten.3
Labrunie und Nerval
Zunächst muß ich eine sehr wichtige Unterscheidung
treffen. Ich möchte gleich zu Beginn eine störende Person
beseitigen, nämlich den empirischen Autor. Der empi-
3 Allerdings möchte ich dem Leser raten, zuerst den Text von Sylvie zu lesen (oder wiederzulesen), bevor er hier weiterliest. Ehe man zur kritischen Analyse schreitet, sollte man unbedingt das
Vergnügen einer »unschuldigen« Lektüre entdeckt oder wieder-
entdeckt haben. Da ich zudem häufig auf die verschiedenen
Kapitel verweisen werde und wir eben von Proust gehört haben,
daß man »immer wieder zurückblättern muß, um festzustellen, wo man sich befindet«, ist es unverzichtbar, die Erfahrung dieses Hin und Her selbst zu machen. [Deutsch ist der Text zur Zeit leider nur in der teuren zweisprachigen Werkausgabe erhältlich: Sylvie.
Erinnerungen an das Valois , in: Gérard de Nerval, Die Töchter der Flamme , übers. von Anjuta Aigner-Dünnwald und Friedhelm Kemp, Werke Bd. 3, München, Winkler, 1989; im folgenden
zitiert nach der (vergriffenen) Taschenbuchausgabe »Rowohlt
Jahrhundert« Bd.
81, Reinbek, 1991, S.
115
–
154. Eine
Neuausgabe ist in Vorbereitung. A. d. Ü.]
44
rische Autor dieser Erzählung hieß Gérard Labrunie und
schrieb unter dem Künstlernamen Gérard de Nerval.
Wenn wir bei der Lektüre von Sylvie an Labrunie
denken, geraten wir sofort auf Abwege. Zum Beispiel muß
dann untersucht werden, wie es viele Exegeten getan
haben, ob und wie viele der in Sylvie erzählten Fakten sich auf Labrunies Leben beziehen. Daher sind die Ausgaben
und Übersetzungen von Sylvie im allgemeinen mit bio-
graphischen Anmerkungen versehen, in denen erörtert
wird, ob Aurélie die Schauspielerin Jenny Colon sein
könnte (deren Anblick einen, wenn man ihr in manchen
Ausgaben reproduziertes Porträt sieht, ratlos macht), ob es
in Loisy wirklich eine Bogenschützenkompanie gab (oder
ob das nicht eher in Creil der Fall war), ob Labrunie
tatsächlich eine Erbschaft seines Onkels erhalten hat und
ob die Figur der Adrienne von Sophie Dawes, der
Baronesse de Feuchères, inspiriert war. Viele solide
akademische Karrieren sind auf der Grundlage solcher
peniblen Recherchen errichtet worden, die sehr nützlich
für das Schreiben einer Biographie über Gérard Labrunie
sein mögen, aber nichts zum Verständnis von Sylvie
beitragen.
Gérard Labrunie hat sein Leben durch Selbstmord
beendet, nachdem er mehrmals in
Weitere Kostenlose Bücher