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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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immer wieder zurückblättern muß, um fest-
    zustellen, wo man sich befindet …« Die Farben von Sylvie
    seien nicht die eines klassischen Pastells; es sei vielmehr
    »eine Purpurfarbe, die einer Purpurrose aus purpurnem
    oder violettem Samt, das Gegenteil der Aquarelltöne des
    gemäßigten Frankreichs«. Sylvie sei kein Muster an
    abgewogener Anmut, sondern ein Muster an krankhafter
    Besessenheit. Die Atmosphäre von Sylvie sei »bläulich
    und purpurfarben«, aber diese Atmosphäre liege nicht in
    den Worten, sondern zwischen den Worten, »wie der
    Nebel eines Morgens in Chantilly«.2
    Vielleicht hatte ich es mit zwanzig noch nicht so sagen
    können, aber ich tauchte aus der Lektüre wie mit
    verklebten Augen auf, nicht so sehr, wie es in Träumen
    vorkommt, sondern eher wie bei jenem langsamen
    morgendlichen Erwachen aus einem Traum, wenn sich die
    ersten bewußten Reflexionen noch mit den letzten Resten
    des Traums vermengen und die Grenze zwischen Traum
    und Wirklichkeit verschwimmt (oder noch nicht über-
    wunden ist). Schon ohne Proust gelesen zu haben, war mir
    klar, daß ich einen Nebeleffekt verspürt hatte.
    Ich habe die Erzählung viele Male im Laufe der letzten
    fünfundvierzig Jahre gelesen, und jedesmal habe ich mir
    selbst und den anderen zu erklären versucht, warum sie

    2 Marcel Proust, »Gérard de Nerval« in Gegen Sainte-Beuve [dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1962, S.
    51
    –
    55,
    A. d. Ü.].
    43
    diese Wirkung auf mich ausübt. Jedesmal glaubte ich es
    entdeckt zu haben, und doch erlag ich jedesmal, wenn ich
    sie wiederzulesen begann, erneut diesem Nebeleffekt.
    Im folgenden werde ich zu klären versuchen, warum und
    wie es dem Text gelingt, seine Nebeleffekte zu pro-
    duzieren. Wer mir dabei folgen will, braucht jedoch nicht
    zu fürchten, daß ihm der Zauber von Sylvie abhanden
    kommt, weil er zuviel darüber weiß. Im Gegenteil, je mehr
    er darüber weiß, desto besser wird es ihm gelingen, beim
    Lesen erneut ins Staunen zu geraten.3
    Labrunie und Nerval
    Zunächst muß ich eine sehr wichtige Unterscheidung
    treffen. Ich möchte gleich zu Beginn eine störende Person
    beseitigen, nämlich den empirischen Autor. Der empi-

    3 Allerdings möchte ich dem Leser raten, zuerst den Text von Sylvie zu lesen (oder wiederzulesen), bevor er hier weiterliest. Ehe man zur kritischen Analyse schreitet, sollte man unbedingt das
    Vergnügen einer »unschuldigen« Lektüre entdeckt oder wieder-
    entdeckt haben. Da ich zudem häufig auf die verschiedenen
    Kapitel verweisen werde und wir eben von Proust gehört haben,
    daß man »immer wieder zurückblättern muß, um festzustellen, wo man sich befindet«, ist es unverzichtbar, die Erfahrung dieses Hin und Her selbst zu machen. [Deutsch ist der Text zur Zeit leider nur in der teuren zweisprachigen Werkausgabe erhältlich: Sylvie.
    Erinnerungen an das Valois , in: Gérard de Nerval, Die Töchter der Flamme , übers. von Anjuta Aigner-Dünnwald und Friedhelm Kemp, Werke Bd. 3, München, Winkler, 1989; im folgenden
    zitiert nach der (vergriffenen) Taschenbuchausgabe »Rowohlt
    Jahrhundert« Bd.
    81, Reinbek, 1991, S.
    115
    –
    154. Eine
    Neuausgabe ist in Vorbereitung. A. d. Ü.]
    44
    rische Autor dieser Erzählung hieß Gérard Labrunie und
    schrieb unter dem Künstlernamen Gérard de Nerval.
    Wenn wir bei der Lektüre von Sylvie an Labrunie
    denken, geraten wir sofort auf Abwege. Zum Beispiel muß
    dann untersucht werden, wie es viele Exegeten getan
    haben, ob und wie viele der in Sylvie erzählten Fakten sich auf Labrunies Leben beziehen. Daher sind die Ausgaben
    und Übersetzungen von Sylvie im allgemeinen mit bio-
    graphischen Anmerkungen versehen, in denen erörtert
    wird, ob Aurélie die Schauspielerin Jenny Colon sein
    könnte (deren Anblick einen, wenn man ihr in manchen
    Ausgaben reproduziertes Porträt sieht, ratlos macht), ob es
    in Loisy wirklich eine Bogenschützenkompanie gab (oder
    ob das nicht eher in Creil der Fall war), ob Labrunie
    tatsächlich eine Erbschaft seines Onkels erhalten hat und
    ob die Figur der Adrienne von Sophie Dawes, der
    Baronesse de Feuchères, inspiriert war. Viele solide
    akademische Karrieren sind auf der Grundlage solcher
    peniblen Recherchen errichtet worden, die sehr nützlich
    für das Schreiben einer Biographie über Gérard Labrunie
    sein mögen, aber nichts zum Verständnis von Sylvie
    beitragen.
    Gérard Labrunie hat sein Leben durch Selbstmord
    beendet, nachdem er mehrmals in

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