Die Bücher und das Paradies
bestehenden Gesellschaft ist es
für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben und existiert
nur noch als Eigentum eines Zehntels. Also werft ihr uns
vor, daß wir euer Eigentum abschaffen wollen? Aller-
dings, das wollen wir.
Aber die Weibergemeinschaft einführen? Keine Spur,
wir wollen eher die Stellung der Frau als bloßes
Produktionsmittel aufheben. Im übrigen habt ihr selbst die
Weibergemeinschaft erfunden, ihr Bourgeois, denen außer
euren eigenen Frauen auch noch die Weiber und Töchter
der Proletarier zur Verfügung stehen und die ihr ein
Hauptvergnügen darin findet, eure Ehefrauen wechsel-
seitig zu verführen. Wir wollten das Vaterland zerstören?
Wie das, man kann den Arbeitern doch nicht nehmen, was
sie gar nicht haben. Wir wollen im Gegenteil, daß sie sich
triumphierend zur nationalen Klasse erheben und damit
selbst als Nation konstituieren …
Und so weiter, bis hin zu jenem Meisterstück an
Zurückhaltung, das die Antwort auf die Religionsfrage
darstellt. Man ahnt, daß sie lautet: »Wir wollen diese
Religion zerstören«, aber so steht es nicht im Text. Er
nähert sich dem delikaten Thema auf Umwegen mit
allgemeinen Bemerkungen, gibt zu verstehen, daß jede
Veränderung ihren Preis hat, winkt dann aber ab, als
wollte er sagen: Heben wir uns doch so heiße Kapitel
lieber für später auf.
Danach folgt der eher theoretische Teil, das Programm
der Bewegung und die Kritik der verschiedenen Sozialis-
men, aber inzwischen ist der Leser bereits durch die
vorangegangenen Seiten verführt. Und sollte der program-
matische Teil dann zu schwierig werden – hier noch ein
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doppelter Paukenschlag am Ende, zwei Parolen, die einem
den Atem rauben, eingängig, leicht zu behalten und – so
will mir scheinen – wie geschaffen für eine rauschende
Zukunft: »Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre
Ketten« und »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
Abgesehen von der gewiß poetischen Fähigkeit, denk-
würdige Metaphern zu erfinden, bleibt das Kommuni-
stische Manifest ein Meisterwerk politischer (und nicht nur politischer) Rhetorik und sollte in der Schule zusammen mit Ciceros Catilinarischen Reden und Shake-
speares Rede des Marcus Antonius über der Leiche
Caesars studiert werden. Auch weil es angesichts von
Marxens guter klassischer Bildung nicht auszuschließen
ist, daß ihm genau diese Texte vorschwebten.
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Die Nebel des Valois1
Ich habe Sylvie als Zwanzigjähriger fast per Zufall entdeckt und die Erzählung gelesen, ohne viel von Nerval zu
wissen. Ich habe sie im Zustand absoluter Unschuld
gelesen und war hingerissen. Später entdeckte ich, daß
Proust die gleichen Eindrücke wie ich gehabt hatte. Ich
weiß nicht mehr, wie ich sie damals in meinem privaten
Wortschatz ausgedrückt habe, denn heute kann ich sie nur
mit den Worten Prousts wiedergeben, so wie er sie auf den
Seiten schildert, die er Nerval in seinem Contre Sainte-
Beuve gewidmet hat.
Sylvie sei keineswegs, schreibt er dort, wie Barrès (und mit ihm eine gewisse reaktionäre Kritik) meinte, eine
neoklassizistische, typisch französische Idylle; es drücke
sich darin keine Heimatverwurzelung aus (allenfalls finde
sich der Protagonist am Ende entwurzelt). In Sylvie gehe 1 Gekürzte und überarbeitete Fassung des Nachworts zu meiner
Übersetzung von Gérard de Nervals Sylvie (Turin, Einaudi, 1999).
Wie bereits in meinen Harvard-Vorlesungen Im Wald der
Fiktionen: Sechs Streifzüge durch die Literatur (Hanser 1994) berichtet, hatte ich über diese Erzählung zuerst einen kleinen Aufsatz geschrieben, dann in den siebziger Jahren eine Reihe von Seminaren an der Universität Bologna veranstaltet, aus der drei Doktorarbeiten und eine Sondernummer der Zeitschrift Versus (31
–
32/1982) hervorgegangen sind, und 1984 einen Fort-
geschrittenenkurs an der Columbia University gehalten. 1993 habe ich sie in meinen Harvard-Vorlesungen behandelt, anschließend
noch einmal in zwei weiteren Kursen, 1995 an der Universität
Bologna und 1996 an der École Normale Supérieure in Paris.
Ergebnis dieser fast lebenslangen Beschäftigung mit Sylvie war dann 1999 meine Übersetzung ins Italienische.
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es um etwas Unbestimmtes – ein »Bild von irrealer
Farbe« –, das wir manchmal im Traum sehen und dessen
Konturen wir festhalten möchten, aber das uns beim
Aufwachen unweigerlich entgleitet. Sylvie sei der »Traum eines Traumes«, und das Traumartige sei so dominant,
»daß man
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