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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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andere als
    berückend.
    Aber dann entdeckte ich beim Weiterblättern im Atlas,
    daß die Datumslinie auch durch den Archipel der Fidschi-
    Inseln verläuft. Fidschi, Samoa, Salomon-Inseln … Diese
    Namen weckten andere Erinnerungen, führten zu anderen
    Fährten. Ein paar Lektüren, und schon war ich mitten im
    17. Jahrhundert, der Zeit, in der die Entdeckungsreisen in
    den Pazifik sich zu häufen begannen. Ich erinnerte mich
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    an meine vielen Ausflüge in die Kultur der Barockzeit, die
    ich früher unternommen hatte, und so kam ich schließlich
    auf die Idee, den Schiffbrüchigen auf ein verlassenes
    Schiff zu versetzen, eine Art Geisterschiff … Und so
    weiter. Von diesem Punkt an konnte der Roman schon fast
    von allein seinen Weg gehen.
    Zunächst eine Welt erbauen
    Aber wo geht ein Roman seinen Weg? Dies ist das zweite Problem, das ich als grundlegend für eine Poetik der
    Erzählkunst ansehe. Wenn ich in einem Interview gefragt
    werde: »Wie haben Sie Ihren Roman geschrieben?«,
    antworte ich gewöhnlich kurz und bündig: »Von links
    nach rechts.« Aber hier habe ich genügend Platz für eine
    ausführlichere Antwort.
    Ich bin überzeugt (oder jedenfalls ist mir nach vier
    Erfahrungen als Erzähler klarer geworden), daß ein
    Roman nicht nur eine Angelegenheit der Sprache ist. Ein
    Roman (wie jede Erzählung, die wir jeden Tag
    produzieren, wenn wir berichten, warum wir am Morgen
    zu spät gekommen sind oder wie wir uns eines lästigen
    Zeitgenossen entledigt haben) benutzt eine Ausdrucks-
    ebene (das heißt Wörter, die sich in der Dichtung so
    schwer übersetzen lassen, weil auch ihr Klang zählt), um
    einen Inhalt wiederzugeben, das heißt die erzählten
    Tatsachen. Aber auf der Inhaltsebene können wir noch
    zwei weitere Elemente unterscheiden, die Fabel und den
    Plot.
    Die Fabel von Rotkäppchen ist eine bloße Folge von
    Handlungen in chronologischer Ordnung – die Mutter
    schickt das Mädchen in den Wald, das Mädchen begegnet
    dem Wolf, der Wolf geht zum Haus der Großmutter, um
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    Rotkäppchen dort zu erwarten, verschlingt die Großmutter
    und zieht ihre Kleider an und so weiter. Der Plot kann
    diese Teile anders organisieren; zum Beispiel könnte die
    Erzählung damit beginnen, daß Rotkäppchen die Groß-
    mutter erblickt und sich über ihr Aussehen wundert, um
    dann zurückzublenden auf den Moment, da Rotkäppchen
    das elterliche Haus verläßt; oder dam it, daß Rotkäppchen
    heil und gesund nach Hause zurückkehrt, sich beim Jäger
    bedankt und dann der Mutter die vorangegangenen Teile
    der Fabel erzählt …
    Die Geschichte von Rotkäppchen ist so sehr auf die
    Fabel (und durch sie auf den Plot) konzentriert, daß sie in
    jedem Diskurs befriedigend wiedergegeben werden kann,
    also durch jeden beliebigen Ausdruck: durch Filmbilder,
    auf französisch, auf deutsch, oder auch als Comic (wie
    geschehen).
    Ich habe mich verschiedentlich über die Beziehungen
    zwischen Ausdruck und Inhalt in der Gegenüberstellung
    von Prosa und Poesie ausgelassen. Nehmen wir die Verse:
    La Vispa Teresa / avea tra l’erbetta / al volo sorpresa /
    gentil farfalletta 4? Warum hat die Wepsige Teresa den netten Schmetterling beim Flug im niederen Gras ( erbetta ) überrascht und nicht in einem Gebüsch ( cespuglio ) oder zwischen Kletterblumen, auf denen sie den Blütenstaub,
    an dem sie sich berauscht, viel besser hätte aufsaugen
    können? Natürlich weil erbetta sich auf farfalletta reimt, während cespuglio einen guazzabuglio (Wirrwarr) nach sich ziehen würde. Das ist kein Spiel. Lassen wir die
    Vispa Teresa und wenden wir uns Montale zu: » Spesso il

    4 Kinderreim von Luigi Sailer (1825 – 1885): »Die Muntere Teresa /
    hatte zwischen den Gräsern / im Flug überrascht / einen niedlichen Schmetterling« (A. d. Ü.).
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    male di vivere ho incontrato: / era il rivo strozzato che
    gorgoglia, / era l’incartocciarsi della foglia / riarsa, era il cavallo stramazzato … «5 Warum hat der Dichter von allen Symbolen oder Epiphanien des male di vivere ausgerechnet das verdorrte Blatt ( foglia riarsa ) gewählt und nicht irgendeine andere Erscheinungsform des Welkens
    und Todes? Warum »gurgelt« ( gorgoglia ) der gestaute
    Bach? Oder gurgelt er vielleicht und ist ein Bach, weil er
    das Erscheinen eben jener foglia vorbereiten soll? In
    jedem Fall hat allein die Notwendigkeit dieses Reims zu
    dem wunderbaren Enjambement jenes riarsa geführt,
    durch das im folgenden Vers die Agonie eines schon
    vegetalischen

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