Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
Lebens verlängert wird, so daß man es in
    den letzten Zuckungen beinahe röcheln hört.
    Wäre jedoch (und hier spielen wir wirklich, zum Glück
    für die Geschichte der Poesie) vorher ein Bach eingeführt
    worden, der murmelt ( borbotta ), dann hätte das Übel des Lebens sich im Dunkel und in der Muffigkeit einer Höhle
    ( grotta )manifestieren müssen.
    Wenn es dagegen heißt: »Einst waren die Malavoglia
    zahlreich wie die Steine der alten Straße nach Trezza«,
    und »es gab sogar welche in Ognina und in Aci Castello«6,
    dann hätte Verga gewiß auch andere Ortsnamen wählen
    können (und vielleicht hätten ihm Montepulciano oder
    Viserba gefallen), aber seine Wahl war eingeschränkt

    5 Eugenio
    Montale,
    Ossi di sepia , zu deutsch etwa: »Oft bin ich dem
    Übel des Lebens begegnet: / Es war der gestaute Bach, der
    gurgelte, / es war das Sich-Einrollen des welken / Blattes, es war das zusammengesackte Pferd.« Vgl. E. Montale, Gedichte 1920 –
    1954 , übertragen von Hanno Helbling, Hanser 1987, S. 66 f.
    (A. d. Ü.).
    6 Der Anfang des Romans I Malavoglia von Giovanni Verga (A. d. Ü.).
    384
    durch seine Entscheidung, die Geschichte in Sizilien
    spielen zu lassen, und sogar der Vergleich mit den Steinen
    der Straße war durch die Natur des Ortes vorgegeben, die
    keine frischen, fast irisch grünen Wiesen mit erbetta
    erlaubte.
    Kurzum, in der Poesie ist es die Wahl des Ausdrucks,
    die den Inhalt bestimmt, während es in der Prosa
    umgekehrt die Welt ist, die man wählt, mitsamt allem, was
    in dieser Welt geschieht, die uns den Rhythmus, den Stil
    und sogar die Wortwahl aufzwingt.
    Gleichwohl wäre es falsch zu sagen, daß in der Poesie
    der Inhalt (und mit ihm das Verhältnis zwischen Fabel und
    Plot) irrelevant sei. Um nur ein Beispiel zu bringen, in
    Leopardis Gedicht A Silvia gibt es eine Fabel (es lebte einmal ein Mädchen, das so und so war, der Dichter liebte
    es, aber es ist gestorben, und nun ruft der Dichter es an),
    und es gibt einen Plot (der Dichter tritt auf, als das
    Mädchen bereits tot ist, und läßt es in seiner Erinnerung
    Wiederaufleben). Es genügt nicht zu sagen, in einer
    Übersetzung dieses Gedichts erzwinge der Wechsel des
    Ausdrucks den Verzicht auf viele lautsymbolische Werte
    ( Silvia/salivi ), auf den Reim und die Metrik. Denn sie wäre keine adäquate Übersetzung, wenn sie nicht sowohl
    die Fabel als auch den Plot respektiert. Sie wäre die
    Übersetzung eines anderen Gedichts.
    Das scheint eine banale Bemerkung zu sein, aber sie
    zeigt, daß sogar in einem poetischen Text der Autor von
    einer Welt spricht (es gibt zwei Häuser, eins gegenüber
    dem anderen, und es gibt ein Mädchen all’opre femminili
    intenta , »mit weiblichen Arbeiten beschäftigt«). Um so mehr gilt das für die erzählende Prosa. Manzoni schreibt
    ziemlich gut (heißt es gewöhnlich), aber was wäre sein
    Roman, wenn darin nicht die Lombardei des 17. Jahr-
    hunderts, der Corner See, zwei Verliebte von niederem
    385
    Stand, ein arroganter Kleinadliger und ein feiger Pfarrer
    vorkämen? Was würde aus den Promessi Sposi , wenn die
    Geschichte in Neapel spielte, zu der Zeit, als dort Eleonora
    Pimental Fonseca hingerichtet wurde? Denken wir nur.
    Deswegen habe ich, als ich den Namen der Rose schrieb, ein reichliches Jahr, wenn ich mich recht erinnere, mit
    Vorbereitungen verbracht, ohne eine einzige Zeile zu
    schreiben (und beim Foucaultschen Pendel waren es
    mindestens zwei Jahre, ebenso bei der Insel des vorigen
    Tages ). Ich las, machte Zeichnungen und Diagramme,
    erfand eine Welt. Diese Welt mußte so präzise wie irgend
    möglich sein, damit ich mich mit vollkommener
    Vertrautheit in ihr bewegen konnte. Für den Namen der
    Rose habe ich Hunderte von Labyrinthen und Abteiplänen gezeichnet, ausgehend von anderen Zeichnungen und von
    Orten, die ich besuchte, denn es war für mich eine
    Grundbedingung, daß alles funktionierte, ich mußte
    wissen, wie lange zwei Personen brauchten, um während
    eines Gesprächs von einem Ort zu einem anderen zu
    gehen. Das bestimmte dann auch die Länge der Dialoge.
    Wenn ich in einem Roman schreiben müßte: »Als der
    Zug im Bahnhof von Modena hielt, stieg er rasch aus und
    kaufte sich eine Zeitung«, könnte ich es nicht, wenn ich
    nicht in Modena gewesen wäre und mich vergewissert
    hätte, ob der Zug dort lange genug hält und wie weit es
    von den Gleisen bis zum Zeitungskiosk ist (und das gilt
    auch, wenn der Zug in Innisfree halten müßte). Dies alles
    würde nur

Weitere Kostenlose Bücher