Die Bücher und das Paradies
Lebens verlängert wird, so daß man es in
den letzten Zuckungen beinahe röcheln hört.
Wäre jedoch (und hier spielen wir wirklich, zum Glück
für die Geschichte der Poesie) vorher ein Bach eingeführt
worden, der murmelt ( borbotta ), dann hätte das Übel des Lebens sich im Dunkel und in der Muffigkeit einer Höhle
( grotta )manifestieren müssen.
Wenn es dagegen heißt: »Einst waren die Malavoglia
zahlreich wie die Steine der alten Straße nach Trezza«,
und »es gab sogar welche in Ognina und in Aci Castello«6,
dann hätte Verga gewiß auch andere Ortsnamen wählen
können (und vielleicht hätten ihm Montepulciano oder
Viserba gefallen), aber seine Wahl war eingeschränkt
5 Eugenio
Montale,
Ossi di sepia , zu deutsch etwa: »Oft bin ich dem
Übel des Lebens begegnet: / Es war der gestaute Bach, der
gurgelte, / es war das Sich-Einrollen des welken / Blattes, es war das zusammengesackte Pferd.« Vgl. E. Montale, Gedichte 1920 –
1954 , übertragen von Hanno Helbling, Hanser 1987, S. 66 f.
(A. d. Ü.).
6 Der Anfang des Romans I Malavoglia von Giovanni Verga (A. d. Ü.).
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durch seine Entscheidung, die Geschichte in Sizilien
spielen zu lassen, und sogar der Vergleich mit den Steinen
der Straße war durch die Natur des Ortes vorgegeben, die
keine frischen, fast irisch grünen Wiesen mit erbetta
erlaubte.
Kurzum, in der Poesie ist es die Wahl des Ausdrucks,
die den Inhalt bestimmt, während es in der Prosa
umgekehrt die Welt ist, die man wählt, mitsamt allem, was
in dieser Welt geschieht, die uns den Rhythmus, den Stil
und sogar die Wortwahl aufzwingt.
Gleichwohl wäre es falsch zu sagen, daß in der Poesie
der Inhalt (und mit ihm das Verhältnis zwischen Fabel und
Plot) irrelevant sei. Um nur ein Beispiel zu bringen, in
Leopardis Gedicht A Silvia gibt es eine Fabel (es lebte einmal ein Mädchen, das so und so war, der Dichter liebte
es, aber es ist gestorben, und nun ruft der Dichter es an),
und es gibt einen Plot (der Dichter tritt auf, als das
Mädchen bereits tot ist, und läßt es in seiner Erinnerung
Wiederaufleben). Es genügt nicht zu sagen, in einer
Übersetzung dieses Gedichts erzwinge der Wechsel des
Ausdrucks den Verzicht auf viele lautsymbolische Werte
( Silvia/salivi ), auf den Reim und die Metrik. Denn sie wäre keine adäquate Übersetzung, wenn sie nicht sowohl
die Fabel als auch den Plot respektiert. Sie wäre die
Übersetzung eines anderen Gedichts.
Das scheint eine banale Bemerkung zu sein, aber sie
zeigt, daß sogar in einem poetischen Text der Autor von
einer Welt spricht (es gibt zwei Häuser, eins gegenüber
dem anderen, und es gibt ein Mädchen all’opre femminili
intenta , »mit weiblichen Arbeiten beschäftigt«). Um so mehr gilt das für die erzählende Prosa. Manzoni schreibt
ziemlich gut (heißt es gewöhnlich), aber was wäre sein
Roman, wenn darin nicht die Lombardei des 17. Jahr-
hunderts, der Corner See, zwei Verliebte von niederem
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Stand, ein arroganter Kleinadliger und ein feiger Pfarrer
vorkämen? Was würde aus den Promessi Sposi , wenn die
Geschichte in Neapel spielte, zu der Zeit, als dort Eleonora
Pimental Fonseca hingerichtet wurde? Denken wir nur.
Deswegen habe ich, als ich den Namen der Rose schrieb, ein reichliches Jahr, wenn ich mich recht erinnere, mit
Vorbereitungen verbracht, ohne eine einzige Zeile zu
schreiben (und beim Foucaultschen Pendel waren es
mindestens zwei Jahre, ebenso bei der Insel des vorigen
Tages ). Ich las, machte Zeichnungen und Diagramme,
erfand eine Welt. Diese Welt mußte so präzise wie irgend
möglich sein, damit ich mich mit vollkommener
Vertrautheit in ihr bewegen konnte. Für den Namen der
Rose habe ich Hunderte von Labyrinthen und Abteiplänen gezeichnet, ausgehend von anderen Zeichnungen und von
Orten, die ich besuchte, denn es war für mich eine
Grundbedingung, daß alles funktionierte, ich mußte
wissen, wie lange zwei Personen brauchten, um während
eines Gesprächs von einem Ort zu einem anderen zu
gehen. Das bestimmte dann auch die Länge der Dialoge.
Wenn ich in einem Roman schreiben müßte: »Als der
Zug im Bahnhof von Modena hielt, stieg er rasch aus und
kaufte sich eine Zeitung«, könnte ich es nicht, wenn ich
nicht in Modena gewesen wäre und mich vergewissert
hätte, ob der Zug dort lange genug hält und wie weit es
von den Gleisen bis zum Zeitungskiosk ist (und das gilt
auch, wenn der Zug in Innisfree halten müßte). Dies alles
würde nur
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