Die Bücher und das Paradies
in Ruhe leben, ohne Geschichten zu
schreiben, da ich meine narrative Passion de facto auf
andere Weise befriedigte; und sollte ich doch einmal
Geschichten schreiben, würden sie nichts anderes sein als
Berichterstattungen über eine Recherche (nur daß man
3 Mailand, Mondadori, 1963; dt. (in Auswahl) Platon im Striptease-Lokal , Hanser 1990 (A. d. Ü.).
376
diese in der erzählenden Literatur eine quest oder quête nennt).
Womit fängt man an?
Im Alter zwischen sechsundvierzig und achtundvierzig
habe ich meinen ersten Roman geschrieben, Der Name der
Rose . Ich habe nicht vor, hier die Gründe (wie sagt man?
die existentiellen?) zu erörtern, die mich dazu gebracht
haben, einen ersten Roman zu schreiben; sie sind
vielfältiger Art, vermutlich bestärken sie sich gegenseitig,
und ich denke, wenn man die Lust verspürt, einen Roman
zu schreiben, ist das Grund genug.
Eine der Fragen, die die Herausgeberin dieses Bandes
den von ihr ausgewählten Autoren gestellt hat, lautet,
welche Phasen es beim Hervorbringen eines Textes gebe.
Die Frage impliziert glücklicherweise, daß der Schreib-
prozeß Phasen durchläuft. Gewöhnlich schwanken naive
Interviewer zwischen zwei Überzeugungen, die einander
widersprechen: einerseits, daß ein sogenannter kreativer
Text sich quasi blitzartig in der mystischen Flamme einer
plötzlichen Eingebung bildet, andererseits, daß der Autor
ein Rezept befolgt hat, eine Art geheime Regel, die man
gerne aufdecken würde.
Es gibt keine Regel, beziehungsweise es gibt viele, die
sehr variabel und flexibel sind; und es gibt auch nicht das
Magma der Inspiration. Aber es stimmt, daß es eine Art
von erster Idee gibt, und es gibt sehr präzise Phasen eines
Prozesses, der sich schrittweise entwickelt.
Meine drei Romane haben sich alle aus einer Ideen-
Keimzelle entwickelt, die wenig mehr als ein Bild war.
Diese erste Idee war es, die mich gepackt und den Wunsch
377
geweckt hatte, sie weiterzuverfolgen. Bei Der Name der
Rose war es die Idee der Ermordung eines Mönches in
einer Bibliothek. Da ich in meiner Nachschrift zum
› Namen der Rose ‹geschrieben habe: »Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften«, ist diese provokatorische Formel wörtlich genommen worden und hat eine
Reihe von Fragen ausgelöst, warum ich denn um Himmels
willen ein solches Verbrechen begehen wollte. Aber ich
hatte gar keinen Drang, einen Mönch zu vergiften (und
habe es auch nie getan): Ich war lediglich fasziniert vom
Bild eines Mönches, der vergiftet wird, während er in
einer Bibliothek ein Buch liest. Ich weiß nicht, ob ich von
der traditionellen Poetik des angelsächsischen Krimis
beeinflußt war, nach der das Verbrechen in einer Pfarrei
begangen werden muß. Vielleicht waren Gefühle in mir
wach geworden, die ich mit sechzehn verspürt hatte, als
ich in den Ferien an einem Exerzitienkurs in einem
Benediktinerkloster teilnahm, wo ich zwischen gotischen
und romanischen Kreuzgängen umherspazierte und
plötzlich in eine Bibliothek geriet, in der aufgeschlagen
auf einem Lesepult die Acta Sanctorum lagen, aus denen ich erfuhr, daß es nicht nur, wie man mir weisgemacht
hatte, einen seligen Umberto gibt, der am 4. März gefeiert
wird, sondern auch einen heiligen Bischof Umberto, der
am 6. September gefeiert wird und einen Löwen in einem
Wald bekehrt hat. Doch offenbar ist mir seit damals, als
ich in jenem vertikal vor mir aufgeschlagenen Folianten
blätterte, umgeben von einer souveränen Stille, zwischen
Lichtstrahlen, die durch gleichsam geriffelte Milchglas-
scheiben einfielen auf Wände, die in Spitzbögen endeten,
ein Moment von Unruhe geblieben.
Ich weiß es nicht. Tatsache ist, daß mich jenes Bild des
beim Lesen ermordeten Mönches irgendwann aufforderte,
etwas um es herumzubauen. Der Rest ist dann nach und
378
nach entstanden, um jenem Bild einen Sinn zu geben,
einschließlich der Entscheidung, die ganze Geschichte ins
Mittelalter zu verlegen. Zu Anfang hatte ich noch gedacht,
sie müßte in unserer Zeit spielen, dann sagte ich mir, da
ich das Mittelalter nun einmal kannte und liebte, könnte es
ebensogut auch der Schauplatz meiner Geschichte sein.
Alles weitere ergab sich dann mit der Zeit beim Lesen,
beim Betrachten von Bildern, beim Wiederöffnen von
Schränken, in denen sich seit fünfundzwanzig Jahren
meine mediävistischen Zettelkästen befanden, die ich zu
ganz anderen Zwecken angelegt hatte.
Mit dem Foucaultschen Pendel
Weitere Kostenlose Bücher