Die Bücher und das Paradies
Nervenheilanstalten
gewesen war, und wir wissen aus einem Brief von ihm,
daß er Sylvie in einem Zustand der Übererregung
geschrieben hat, mit Bleistift auf lose Blätter. Doch wenn
Labrunie geistig verwirrt war, so gilt das keineswegs für
Nerval, soll heißen: für jenen Modell-Autor, den wir
gerade bei der Lektüre von Sylvie zu erkennen vermögen.
Dieser Text erzählt die Geschichte eines Protagonisten,
der in die Nähe des Wahnsinns gerät, aber er ist kein Werk
eines Geisteskranken: Wer immer ihn auch geschrieben
hat (und dieser Wer-immer ist der, den wir von jetzt an
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Nerval nennen wollen), er ist ein bewundernswert gut
gebauter Text voller Symmetrien, Gegenüberstellungen,
innerer Entsprechungen und Verweise.
Wenn Nerval keine der Erzählung äußerliche Figur ist,
wie tritt er dann in ihr auf? Vor allem als Erzählstrategie.
Fabel und Handlungsgang
Um Nervals Erzählstrategie zu verstehen und zu begreifen,
wie es ihm gelingt, im Leser jenen Nebeleffekt zu
erzeugen, von dem ich gesprochen habe, müssen wir uns
das Diagramm in Abbildung 1 ansehen.4 In der Hori-
zontale sind die Kapitel der Erzählung aufgelistet, in der
Vertikale links habe ich die zeitliche Abfolge der erzählten
Ereignisse rekonstruiert. In der Vertikale haben wir also
die Fabel oder Story , in der Horizontale den Handlungsgang oder Plot .
Der Handlungsgang ist die Art und Weise, wie die
Erzählung an der Oberfläche organisiert ist und schritt-
weise dargelegt wird: Ein junger Mann kommt aus einem
Theater, beschließt, auf das Schützenfest in Loisy zu
gehen, erinnert sich während der Fahrt an eine frühere
Fahrt, gelangt zum Fest, sieht seine Jugendliebe Sylvie
wieder, verbringt mit ihr einen Tag, kehrt nach Paris
zurück, hat ein Abenteuer mit der Schauspielerin und
entscheidet sich schließlich (Sylvie ist unterdessen in
Dammartin verheiratet), seine Geschichte zu erzählen. Da
4 Eine ähnliche Abbildung stand bereits in meinen Harvard-
Vorlesungen Im Wald der Fiktionen . Diese und Abbildung 2 sind mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem zitierten Einaudi-Bändchen entnommen.
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die Handlung an jenem Abend beginnt, an dem der
Protagonist aus einem Theater kam (per Übereinkunft die
Zeit t1), wird ihr Gang durch die schwarze Linie
dargestellt, die sich von jenem Abend über diverse
Zeitstufen (Zeiten t1 – t14) bis zum Ende hinzieht.
In den Ablauf dieser Ereignisse schalten sich jedoch
Erinnerungen an frühere Zeiten ein, dargestellt durch
senkrechte Pfeile, die auf Zeiten vor t1 verweisen. Die
durchgezogenen Pfeile stellen die Rekonstruktionen des
Protagonisten dar, die gestrichelten die Bezugnahmen auf
Vergangenes, die sich, manchmal nur flüchtig, in den
Gesprächen zwischen den verschiedenen Personen finden.
So erinnert sich zum Beispiel der Protagonist zwischen ein
Uhr nachts und vier Uhr morgens (in t1) an eine frühere
Fahrt nach Loisy, die auf der Ebene des Handlungsgangs
drei Kapitel einnimmt, und in den Kapiteln 9 und 10 wird
flüchtig an Episoden in Sylvies Kindheit und an eine
Rettung aus dem Wasser (in Kindersprache l’ieau
genannt) in t3 erinnert.
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Dank dieser Rückerinnerungen läßt sich stückweise die Fabel rekonstruieren, das heißt die zeitliche Abfolge der
Ereignisse, von denen die Erzählung handelt: Zuerst war
der Protagonist ein kleiner Junge und liebte das Mädchen
Sylvie, dann begegnet er bei einem Tanz Adrienne, später
kehrt er noch einmal nach Loisy zurück, schließlich macht
er sich, inzwischen erwachsen geworden, eines Abends
erneut auf die Reise, und so fort.
Der Handlungsgang ist das, was wir vorfinden, was wir
beim Lesen vor Augen haben. Die Fabel ist nicht so
offenkundig, und gerade beim Versuch, sie zu rekonstru-
ieren, bilden sich einige Nebeleffekte, denn wir können
nie genau sagen, von welcher Zeit die Erzählerstimme
gerade spricht. Mein Diagramm beansprucht nicht, die
Nebeleffekte aufzulösen, sondern zu erklären, wie sie
zustande kommen. Und die Fabel wird nur hypothetisch
rekonstruiert, in dem Sinne, daß die erinnerten Dinge
wahrscheinlich Erlebnissen entsprechen, die der Protagonist zuerst im Alter von zehn bis zwölf Jahren, dann
zwischen dem vierzehnten und sechzehnten und schließ-
lich zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Lebens-
jahr gehabt hat (man könnte aber auch eine andere
Rechnung aufmachen, der Protagonist könnte auch ein
besonders frühreifer oder ein sehr
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