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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Nervenheilanstalten
    gewesen war, und wir wissen aus einem Brief von ihm,
    daß er Sylvie in einem Zustand der Übererregung
    geschrieben hat, mit Bleistift auf lose Blätter. Doch wenn
    Labrunie geistig verwirrt war, so gilt das keineswegs für
    Nerval, soll heißen: für jenen Modell-Autor, den wir
    gerade bei der Lektüre von Sylvie zu erkennen vermögen.
    Dieser Text erzählt die Geschichte eines Protagonisten,
    der in die Nähe des Wahnsinns gerät, aber er ist kein Werk
    eines Geisteskranken: Wer immer ihn auch geschrieben
    hat (und dieser Wer-immer ist der, den wir von jetzt an
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    Nerval nennen wollen), er ist ein bewundernswert gut
    gebauter Text voller Symmetrien, Gegenüberstellungen,
    innerer Entsprechungen und Verweise.
    Wenn Nerval keine der Erzählung äußerliche Figur ist,
    wie tritt er dann in ihr auf? Vor allem als Erzählstrategie.
    Fabel und Handlungsgang
    Um Nervals Erzählstrategie zu verstehen und zu begreifen,
    wie es ihm gelingt, im Leser jenen Nebeleffekt zu
    erzeugen, von dem ich gesprochen habe, müssen wir uns
    das Diagramm in Abbildung 1 ansehen.4 In der Hori-
    zontale sind die Kapitel der Erzählung aufgelistet, in der
    Vertikale links habe ich die zeitliche Abfolge der erzählten
    Ereignisse rekonstruiert. In der Vertikale haben wir also
    die Fabel oder Story , in der Horizontale den Handlungsgang oder Plot .
    Der Handlungsgang ist die Art und Weise, wie die
    Erzählung an der Oberfläche organisiert ist und schritt-
    weise dargelegt wird: Ein junger Mann kommt aus einem
    Theater, beschließt, auf das Schützenfest in Loisy zu
    gehen, erinnert sich während der Fahrt an eine frühere
    Fahrt, gelangt zum Fest, sieht seine Jugendliebe Sylvie
    wieder, verbringt mit ihr einen Tag, kehrt nach Paris
    zurück, hat ein Abenteuer mit der Schauspielerin und
    entscheidet sich schließlich (Sylvie ist unterdessen in
    Dammartin verheiratet), seine Geschichte zu erzählen. Da

    4 Eine ähnliche Abbildung stand bereits in meinen Harvard-
    Vorlesungen Im Wald der Fiktionen . Diese und Abbildung 2 sind mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem zitierten Einaudi-Bändchen entnommen.
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    die Handlung an jenem Abend beginnt, an dem der
    Protagonist aus einem Theater kam (per Übereinkunft die
    Zeit t1), wird ihr Gang durch die schwarze Linie
    dargestellt, die sich von jenem Abend über diverse
    Zeitstufen (Zeiten t1 – t14) bis zum Ende hinzieht.

    In den Ablauf dieser Ereignisse schalten sich jedoch
    Erinnerungen an frühere Zeiten ein, dargestellt durch
    senkrechte Pfeile, die auf Zeiten vor t1 verweisen. Die
    durchgezogenen Pfeile stellen die Rekonstruktionen des
    Protagonisten dar, die gestrichelten die Bezugnahmen auf
    Vergangenes, die sich, manchmal nur flüchtig, in den
    Gesprächen zwischen den verschiedenen Personen finden.
    So erinnert sich zum Beispiel der Protagonist zwischen ein
    Uhr nachts und vier Uhr morgens (in t1) an eine frühere
    Fahrt nach Loisy, die auf der Ebene des Handlungsgangs
    drei Kapitel einnimmt, und in den Kapiteln 9 und 10 wird
    flüchtig an Episoden in Sylvies Kindheit und an eine
    Rettung aus dem Wasser (in Kindersprache l’ieau
    genannt) in t3 erinnert.
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    Dank dieser Rückerinnerungen läßt sich stückweise die Fabel rekonstruieren, das heißt die zeitliche Abfolge der
    Ereignisse, von denen die Erzählung handelt: Zuerst war
    der Protagonist ein kleiner Junge und liebte das Mädchen
    Sylvie, dann begegnet er bei einem Tanz Adrienne, später
    kehrt er noch einmal nach Loisy zurück, schließlich macht
    er sich, inzwischen erwachsen geworden, eines Abends
    erneut auf die Reise, und so fort.
    Der Handlungsgang ist das, was wir vorfinden, was wir
    beim Lesen vor Augen haben. Die Fabel ist nicht so
    offenkundig, und gerade beim Versuch, sie zu rekonstru-
    ieren, bilden sich einige Nebeleffekte, denn wir können
    nie genau sagen, von welcher Zeit die Erzählerstimme
    gerade spricht. Mein Diagramm beansprucht nicht, die
    Nebeleffekte aufzulösen, sondern zu erklären, wie sie
    zustande kommen. Und die Fabel wird nur hypothetisch
    rekonstruiert, in dem Sinne, daß die erinnerten Dinge
    wahrscheinlich Erlebnissen entsprechen, die der Protagonist zuerst im Alter von zehn bis zwölf Jahren, dann
    zwischen dem vierzehnten und sechzehnten und schließ-
    lich zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Lebens-
    jahr gehabt hat (man könnte aber auch eine andere
    Rechnung aufmachen, der Protagonist könnte auch ein
    besonders frühreifer oder ein sehr

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