Die Bücher und das Paradies
zurückgebliebener
Junge gewesen sein).
Daß die Rekonstruktion (die wie gesagt nur wahr-
scheinlich sein kann) anhand des Textes gemacht werden
muß und nicht anhand von Elementen der Biographie
Labrunies, lehrt uns das Schicksal einiger Kommenta-
toren, die sich damit abmühen, den Abend nach dem
Theater in das Jahr 1836 zu datieren, weil das im Text
evozierte moralische und politische Klima dem jener Jahre
zu entsprechen scheint und weil der geschilderte Klub an
jenes Café de Valois erinnert, das zusammen mit anderen
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Spielklubs gegen Ende 1836 geschlossen wurde. Verkürzt
man den Protagonisten auf Labrunie, so ergeben sich
einige ziemlich groteske Probleme. Wie alt war der junge
Mann dann im Jahre 1836, und wie alt muß er gewesen
sein, als er Adrienne bei jenem Tanz auf der Wiese
gesehen hatte? Da Labrunie (der 1808 geboren ist) nur bis
1814 (also bis er sechs Jahre alt war) bei seinem Onkel in
Mortefontaine gelebt hatte – wann war er dann bei jenem
Tanz gewesen? Da er 1820 mit zwölf Jahren ins College
Charlemagne kam – war er damals im Sommer nach Loisy
zurückgekehrt und hatte Adrienne gesehen? Und war er
mithin an dem fraglichen Abend nach dem Theater
achtundzwanzig Jahre alt? Und wenn der Besuch bei der
Tante in Othys, wie viele annehmen, drei Jahre vorher
stattfand
– war er dann damals ein Bursche von
fünfundzwanzig Jahren gewesen, der sich mit Sylvie als
Braut und Bräutigam verkleidete und den die Tante als
hübschen Blonden ansprach? Ein Bursche, der bald darauf
(1834) dreißigtausend Franken erbte und schon eine Reise
nach Italien – eine regelrechte Initiationsreise – gemacht
und bereits 1827 Goethes Faust übersetzt hatte? Wie
man’s auch dreht und wendet, es paßt nicht zusammen,
und darum muß man auf solche Berechnungen nach Art
von Einwohnermelderegistern verzichten.
Je-rard und Nerval
Die Erzählung beginnt mit den Worten: »Ich verließ ein
Theater« ( Je sortais d’un théâtre ). Wir haben zwei
Entitäten – ein Ich und ein Theater – sowie ein Verb im
Imperfekt.
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Da das Ich nicht Labrunie sein kann (den wir seinem
traurigen Schicksal überlassen haben), wer ist es dann, der
hier spricht? In einer Ich-Erzählung ist derjenige, der Ich
sagt, der Protagonist der Erzählung und nicht zwangs-
läufig der Autor. Infolgedessen wird Sylvie (nachdem
Labrunie ausgeschieden ist) von Nerval geschrieben, der
ein Ich auftreten läßt, das uns etwas erzählt. Wir haben es
also mit der Erzählung einer Erzählung zu tun. Um jedes
Mißverständnis auszuräumen, beschließen wir, daß jenes
Je , das zu Beginn ein Theater verläßt, eine Figur ist, die wir Je-rard nennen wollen.
Aber wann spricht dieser Jerard? Er spricht in dem, was wir die Zeit der Narration (oder tN) nennen wollen, das
heißt in dem Moment, da er seine Vergangenheit zu
beschreiben und in Erinnerung zu rufen beginnt, indem er
uns sagt, daß er eines Abends (t1, Zeit des Beginns der
Handlung) aus einem Theater kam. Da die Erzählung 1853
erschienen ist, könnte man annehmen, daß tN dieses Jahr
sei, aber das wäre bloß eine willkürliche Annahme, um
einen Zeitpunkt zu haben, von dem aus man zurück-
rechnen kann. Da wir nicht wissen, wie viele Jahre
zwischen t14 und tN liegen (es müssen aber etliche sein,
denn in tN hat Sylvie bereits zwei Kinder, die groß genug
sind, um Bogenschießen zu können), könnte der
Theaterabend auch fünf oder zehn Jahre früher angesetzt
werden, wenn man annimmt, daß Jerard und Sylvie in t3
noch Kinder waren.
Nun erzählt der Jerard, der in tN spricht, von seinem Ich
vor etlichen Jahren, das sich seinerseits an Ereignisse aus
Jerards Kindheit und frühen Jugend erinnert. Das ist nichts
Ungewöhnliches, jedem von uns kann es passieren, daß er
sagt: »Als ich [ich1, der jetzt spricht] achtzehn Jahre alt
war, kam ich [ich2, damals] nicht darüber hinweg, daß ich
mit sechzehn [ich3] eine unglückliche Liebesgeschichte
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hatte.« Das heißt aber weder, daß mein Ich1 noch immer
an der pubertären Leidenschaft meines Ich3 teilhat, noch
daß es ihm gelingt, die Melancholie meines Ich2 zu
rechtfertigen. Im besten Fall kann es sich beide Ichs voller
Nachsicht und Zärtlichkeit in Erinnerung rufen und
entdecken, daß es sich inzwischen sehr verändert hat. In
gewissem Sinn ist es dies, was Jerard tut, nur daß er,
während er sich als so verschieden je nach der erinnerten
Zeit erkennt, nie sagen kann, mit welchem
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