Die Bücher und das Paradies
seiner früheren
Ichs er sich identifiziert, weshalb er so verwirrt über seine
eigene Identität bleibt, daß er sich in der ganzen Erzählung
niemals selber nennt – abgesehen vom ersten Absatz des
Kapitels 13, wo er ein Billet mit »ein Unbekannter«
unterschreibt. Infolgedessen bezeichnet auch das scheinbar
so unstrittige Pronomen jedesmal einen anderen.
Doch nicht genug damit, daß es viele Jerards gibt,
manchmal ist auch der Sprechende nicht Jerard, sondern
Nerval, der sich sozusagen verstohlen in die Erzählung
einmischt. Ich habe absichtlich »in die Erzählung« gesagt,
nicht in die Fabel oder den Handlungsgang. Fabel und
Handlungsgang lassen sich identifizieren, aber nur, weil
sie uns durch einen Diskurs mitgeteilt werden. Um zu verdeutlichen, was ich meine: Als ich Sylvie übersetzte, habe ich einen französischen Originaldiskurs in einen
italienischen Diskurs transformiert, aber mich dabei
bemüht, Fabel und Handlungsgang unverändert zu lassen.
Ein Regisseur könnte die Handlung von Sylvie in einen Film »übersetzen« und dem Zuschauer ermöglichen, durch
ein Spiel von Auflösungen und Rückblenden die Ge-
schichte zu rekonstruieren (ich will nicht entscheiden, wie
erfolgreich). Aber er könnte gewiß nicht den Diskurs
übersetzen, wie ich es getan habe, denn er müßte die
Wörter in Bilder umsetzen, und es ist ein Unterschied, ob
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man von einer Frau schreibt, sie sei »bleich wie die
Nacht«, oder ob man eine bleiche Frau zeigt.
Nerval zeigt sich nie in der Fabel oder im
Handlungsgang, wohl aber im Diskurs, und nicht nur (wie
es bei jedem beliebigen Autor vorkommt) als eine
bestimmte Art der Wortwahl und der Artikulation von
Sätzen und Satzfolgen. Er mischt sich auch heimlich als
eine »Stimme« ein, die zu uns spricht, zu uns als seinen
Modell-Lesern.
Wer spricht, wenn es im zweiten Absatz von Kapitel 3
heißt: »Sehen wir zu, daß wir wieder festen Boden unter
die Füße bekommen!« ( Reprenons pied sur le réel )? Jerard zu sich selbst, nachdem er an Adriennes und Aurélies
Identität gezweifelt hat? Nerval, der seine Figur zur
Ordnung ruft, oder uns Leser, die wir uns haben
verzaubern lassen? Etwas später, während Jerard in jener
Nacht nach Loisy fährt, heißt es im Text: »Während die
Kutsche langsam die Hänge hinauffährt, wollen wir uns
die Erinnerungen an jene Zeit vergegenwärtigen, als ich so
oft hierherkam« ( Pendant que la voiture monte les côtes,
recomposons les souvenirs du temps où j’y venais si
souvent ). Ist es Jerard in t3, der hier spricht, in einer Art von innerem Monolog, der sich im Indikativ Präsens
vollzieht? Ist es Jerard in tN, der sagt: »Während der dort die Hänge hinauffährt, verlassen wir ihn für eine Weile
und versuchen wir, uns an eine frühere Zeit zu erinnern«?
Und ist dieses »versuchen wir uns zu erinnern« eine
Aufforderung, die Jerard an sich selber richtet, oder ist es
eine, die Nerval an uns richtet, an uns Leser, die damit
aufgerufen sind, am Gang seines Schreibprozesses
teilzunehmen?
Wer sagt am Anfang von Kapitel 14: »Solcherart sind
die Chimären, die uns am Morgen unseres Lebens locken
und auf verschlungenen Wegen irreführen« ( Telles sont
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les chimères qui charment et égarent au matin de la vie )?
Es könnte Jerard in tN sein, als Komplize und Opfer seiner
früheren Illusionen, aber man beachte, daß dieser
Bemerkung ein direkter Appell an die Leser folgt (»aber
viele Herzen werden mich verstehen«), durch den die
Anordnung gerechtfertigt wird, in der die Geschehnisse
erzählt worden sind . Der hier spricht, scheint also nicht Jerard zu sein, sondern der Autor des Textes Sylvie, den
wir gerade lesen.
Vieles ist über dieses Spiel mit verschiedenen Stimmen
geschrieben worden, aber alles bleibt immer unentscheid-
bar. Nerval selbst ist es, der sich entschieden hat, un-
entscheidbar zu bleiben, und er sagt es uns nicht nur, um
an unserer Verwirrung teilzuhaben (und sie zu verstehen),
sondern um sie auf die Spitze zu treiben. Vierzehn Kapitel
lang wissen wir nie genau, ob derjenige, der da spricht,
etwas erzählt, oder ob er jemanden darstellt , der etwas erzählt – und es ist auch niemals auf Anhieb klar, ob
dieser Jemand das, was er da erzählt, gerade erlebt oder
sich nur in Erinnerung ruft.
»Verläßt« man ein Theater?
Schon im ersten Satz der Erzählung wird das Theater
erwähnt, und dieses Thema wird bis zum Ende nicht mehr
verlassen. Nerval war
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