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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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seiner früheren
    Ichs er sich identifiziert, weshalb er so verwirrt über seine
    eigene Identität bleibt, daß er sich in der ganzen Erzählung
    niemals selber nennt – abgesehen vom ersten Absatz des
    Kapitels 13, wo er ein Billet mit »ein Unbekannter«
    unterschreibt. Infolgedessen bezeichnet auch das scheinbar
    so unstrittige Pronomen jedesmal einen anderen.
    Doch nicht genug damit, daß es viele Jerards gibt,
    manchmal ist auch der Sprechende nicht Jerard, sondern
    Nerval, der sich sozusagen verstohlen in die Erzählung
    einmischt. Ich habe absichtlich »in die Erzählung« gesagt,
    nicht in die Fabel oder den Handlungsgang. Fabel und
    Handlungsgang lassen sich identifizieren, aber nur, weil
    sie uns durch einen Diskurs mitgeteilt werden. Um zu verdeutlichen, was ich meine: Als ich Sylvie übersetzte, habe ich einen französischen Originaldiskurs in einen
    italienischen Diskurs transformiert, aber mich dabei
    bemüht, Fabel und Handlungsgang unverändert zu lassen.
    Ein Regisseur könnte die Handlung von Sylvie in einen Film »übersetzen« und dem Zuschauer ermöglichen, durch
    ein Spiel von Auflösungen und Rückblenden die Ge-
    schichte zu rekonstruieren (ich will nicht entscheiden, wie
    erfolgreich). Aber er könnte gewiß nicht den Diskurs
    übersetzen, wie ich es getan habe, denn er müßte die
    Wörter in Bilder umsetzen, und es ist ein Unterschied, ob
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    man von einer Frau schreibt, sie sei »bleich wie die
    Nacht«, oder ob man eine bleiche Frau zeigt.
    Nerval zeigt sich nie in der Fabel oder im
    Handlungsgang, wohl aber im Diskurs, und nicht nur (wie
    es bei jedem beliebigen Autor vorkommt) als eine
    bestimmte Art der Wortwahl und der Artikulation von
    Sätzen und Satzfolgen. Er mischt sich auch heimlich als
    eine »Stimme« ein, die zu uns spricht, zu uns als seinen
    Modell-Lesern.
    Wer spricht, wenn es im zweiten Absatz von Kapitel 3
    heißt: »Sehen wir zu, daß wir wieder festen Boden unter
    die Füße bekommen!« ( Reprenons pied sur le réel )? Jerard zu sich selbst, nachdem er an Adriennes und Aurélies
    Identität gezweifelt hat? Nerval, der seine Figur zur
    Ordnung ruft, oder uns Leser, die wir uns haben
    verzaubern lassen? Etwas später, während Jerard in jener
    Nacht nach Loisy fährt, heißt es im Text: »Während die
    Kutsche langsam die Hänge hinauffährt, wollen wir uns
    die Erinnerungen an jene Zeit vergegenwärtigen, als ich so
    oft hierherkam« ( Pendant que la voiture monte les côtes,
    recomposons les souvenirs du temps où j’y venais si
    souvent ). Ist es Jerard in t3, der hier spricht, in einer Art von innerem Monolog, der sich im Indikativ Präsens
    vollzieht? Ist es Jerard in tN, der sagt: »Während der dort die Hänge hinauffährt, verlassen wir ihn für eine Weile
    und versuchen wir, uns an eine frühere Zeit zu erinnern«?
    Und ist dieses »versuchen wir uns zu erinnern« eine
    Aufforderung, die Jerard an sich selber richtet, oder ist es
    eine, die Nerval an uns richtet, an uns Leser, die damit
    aufgerufen sind, am Gang seines Schreibprozesses
    teilzunehmen?
    Wer sagt am Anfang von Kapitel 14: »Solcherart sind
    die Chimären, die uns am Morgen unseres Lebens locken
    und auf verschlungenen Wegen irreführen« ( Telles sont
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    les chimères qui charment et égarent au matin de la vie )?
    Es könnte Jerard in tN sein, als Komplize und Opfer seiner
    früheren Illusionen, aber man beachte, daß dieser
    Bemerkung ein direkter Appell an die Leser folgt (»aber
    viele Herzen werden mich verstehen«), durch den die
    Anordnung gerechtfertigt wird, in der die Geschehnisse
    erzählt worden sind . Der hier spricht, scheint also nicht Jerard zu sein, sondern der Autor des Textes Sylvie, den
    wir gerade lesen.
    Vieles ist über dieses Spiel mit verschiedenen Stimmen
    geschrieben worden, aber alles bleibt immer unentscheid-
    bar. Nerval selbst ist es, der sich entschieden hat, un-
    entscheidbar zu bleiben, und er sagt es uns nicht nur, um
    an unserer Verwirrung teilzuhaben (und sie zu verstehen),
    sondern um sie auf die Spitze zu treiben. Vierzehn Kapitel
    lang wissen wir nie genau, ob derjenige, der da spricht,
    etwas erzählt, oder ob er jemanden darstellt , der etwas erzählt – und es ist auch niemals auf Anhieb klar, ob
    dieser Jemand das, was er da erzählt, gerade erlebt oder
    sich nur in Erinnerung ruft.
    »Verläßt« man ein Theater?
    Schon im ersten Satz der Erzählung wird das Theater
    erwähnt, und dieses Thema wird bis zum Ende nicht mehr
    verlassen. Nerval war

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