Die Bücher und das Paradies
ein Theatermensch, Labrunie hatte
sich wirklich in eine Schauspielerin verliebt, Jerard hebt
eine Frau, die er nur auf der Bühne gesehen hat, und vor
Bühnen treibt er sich fast bis zum Ende der Erzählung
herum. Aber das Theater ist in Sylvie auch sonst
allgegenwärtig, theatralische Szenen sind der Tanz auf der
Wiese mit Adrienne, das Blumenfest in Loisy (und
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Theatermaschinerie ist der Korb, aus dem der Schwan
aufsteigt), die Maskerade in Hochzeitskleidern, die Jerard
und Sylvie im Haus der Tante inszenieren, und die sakrale
Aufführung in der Abtei von Châalis.
Mehr noch, viele haben bemerkt, daß Nerval für seine
zentralen Szenen stets eine theatralische Beleuchtung
wählt. Die Schauspielerin erscheint zuerst von unten durch
das Rampenlicht beleuchtet, dann von oben durch die
Strahlen des Lüsters, aber Techniken der Theater-
beleuchtung werden auch beim Tanz auf der Wiese
eingesetzt, wenn die letzten Strahlen der Abendsonne
durch die Blätter der als Kulissen dienenden Bäume
einfallen, und während Adrienne singt, wird sie vom
Mond wie von einem Scheinwerfer isoliert (und am Ende
tritt sie aus dem, was wir heute einen Lichtkegel nennen
würden, mit einem anmutigen Gruß heraus wie eine
Schauspielerin, die sich vom Publikum verabschiedet).
Am Anfang des vierten Kapitels, während der »Reise nach
Kythera« (die überdies verbale Darstellung einer visuellen
Darstellung ist, denn Vorbild ist ein Gemälde von
Watteau), wird die Szene erneut von oben durch die
rotglühenden Strahlen der Abendsonne beleuchtet. Und
schließlich, als Jerard am Anfang des achten Kapitels den
Tanzplatz von Loisy erreicht, erleben wir ein Meisterwerk
der Lichtregie, wenn um die Wipfel der Linden eine
»bläuliche Helle« spielt, während die Stämme unten
bereits im Dunkeln liegen, bis in diesem Kampf zwischen
künstlichen Lichtern und dämmerndem Tag die Szene
langsam vom bleichen Morgenlicht erfüllt wird.
Man darf sich also nicht von einer »groben« Lektüre der
Erzählung täuschen lassen und behaupten, sie operiere –
so wie Jerard hin- und hergerissen sei zwischen dem
Traum einer Illusion und dem Streben nach Wirklichkeit –
mit einer klaren und harten Gegenüberstellung von
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Theater und Wirklichkeit. Denn jedesmal, wenn Jerard ein
Theater zu verlassen sucht, betritt er ein anderes. Er
beginnt mit einer Feier der Illusion als der einzigen
Wahrheit, an der er sich auch noch im zweiten Kapitel
berauscht. Im dritten Kapitel scheint er eine Reise in die
Realität anzutreten, denn die Sylvie, die er aufsuchen will,
existiert wirklich, aber er findet sie nicht mehr als das
Naturkind vor, das er in Erinnerung hat, sondern von
Kultur durchdrungen, sie phrasiert beim Singen (und sie benutzt die Hochzeitskleider der Tante, um zu einem
Maskenball zu gehen, und sie ist wie eine erfahrene
Schauspielerin bereit, Adrienne nachzuahmen und das von
ihr in Châalis gesungene Lied zu singen, angeleitet von
Jerard, der den Regisseur spielt). Und wie eine
Theaterfigur verhält sich auch Jerard selbst, als er (in
Kapitel 8) den letzten Versuch macht, Sylvie zu erobern,
indem er sich ihr zu Füßen wirft wie in einer klassischen
Tragödie.
So ist das Theater bald Ort der triumphierenden und
rettenden Illusion, bald Ort der Enttäuschung und
Ernüchterung. Was die Erzählung thematisiert (und daher
rührt ein weiterer Nebeleffekt), ist nicht der Gegensatz
zwischen Illusion und Wirklichkeit, sondern der Bruch,
der durch beide Welten geht und sie miteinander
vermischt.
Die Symmetrie des Handlungsgangs
Wenn wir noch einmal zu Abbildung 1 zurückkehren,
sehen wir, daß die vierzehn Kapitel, in denen sich der
Handlungsgang artikuliert, in zwei Hälften geteilt werden
können, eine vorwiegend bei Nacht und eine vorwiegend
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bei Tag spielende. Die nächtliche Kapitelfolge bezieht sich
auf eine schwärmerisch in Erinnerung gerufene und im
Traum gesehene Welt; alles wird euphorisch erlebt, im
Zauber der Natur, der Raum wird langsam durchmessen
und mit einer Fülle an festlichen Details beschrieben. In
der zweiten Kapitelfolge findet Jerard dagegen ein Valois,
das ganz und gar künstlich ist, aus falschen Ruinen
zusammengesetzt, in dem er die Stätten seiner früheren
Reise in einer dysphorischen, depressiven Stimmung
wiederbesucht, ohne sich bei den Details der Landschaften
aufzuhalten und nur mit Blick für die Epiphanien der
Ernüchterung.
In Kapitel
5, nach dem Fest,
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