Die Bücher und das Paradies
hat, sieht er links in der Nähe die Mauern des
Klosters von Saint-S*** und rechts in der Ferne die Butte
aux Gens d’Armes, die Ruinen der Abtei von Thiers und
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das Schloß von Pontarmé, also lauter Lokalitäten im
Nordwesten von Loisy, wohin er dann wieder zurückkehrt.
Er kann also nicht den Weg nach Montagny eingeschlagen
haben, das zu weit im Nordosten liegt.
Am Anfang von Kapitel 9 begibt sich Jerard vom Ort
des Balls nach Montagny, dann geht er zurück nach Loisy,
findet dort alle noch schlafend vor, wendet sich nach
Ermenonville, läßt die »Einöde« links liegen, gelangt zum
Grabmal Rousseaus und kehrt von dort nach Loisy zurück.
Wäre er wirklich nach Montagny gegangen, hätte er einen
sehr weiten Weg zurücklegen müssen, um dort hinzu-
gelangen, nachdem er bereits durch die Gegend von
Ermenonville gekommen war, und es wäre unsinnig, nach
Loisy zurückzukehren – nochmals durch die Gegend von
Ermenonville –, um dann zu beschließen, erneut in Rich-
tung Ermenonville zu gehen und schließlich abermals
nach Loisy zurückzukehren.
Gewiß kann dies auf biographischer Ebene bedeuten,
daß Nerval sich entschlossen hatte, das Haus seines
Onkels nach Montagny zu verlegen, dann aber nicht damit
zurechtgekommen war und weiter (mit Labrunie) an
Mortefontaine gedacht hat. Doch das braucht uns nicht
weiter zu beschäftigen, es sei denn, wir wollten auf seinen
Spuren gehen und die Wanderung wiederholen. Der Text
ist dazu da, uns in ein Valois zu entführen, in dem sich die
Erinnerung mit dem Traum vermengt, und er tut alles, um
uns die Spur verlieren zu lassen.
Wenn das aber das so ist, warum soll man dann
versuchen, um jeden Preis die Karte zu rekonstruieren?
Ich glaube, daß normale Leser darauf verzichten, wie ich
selbst es viele Jahre lang getan habe, denn es genügt, sich
vom Zauber der Namen fesseln zu lassen. Schon Proust
hat hervorgehoben, welche Macht die Namen in dieser
Erzählung haben, und er schloß mit der Bemerkung, wer
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Sylvie einmal gelesen habe, könne nicht umhin zu
erschauern, wenn er zufällig in einem Eisenbahnfahrplan
den Namen Pontarmé lese. Doch er bemerkte auch, daß
andere Ortsnamen, die ebenfalls in der Literaturgeschichte
berühmt sind, nicht die gleiche Gefühlsaufwallung
bewirken. Vielleicht weil die hier auftretenden Toponyme
sich im Kopf (oder im Herzen) wie eine musikalische
Tonfolge, eine petite phrase festsetzen?
Die Antwort scheint mir evident: weil sie wiederkehren .
Die Leser zeichnen keine Karten, sondern hören
(buchstäblich, wie man Töne hört), daß Jerard bei jeder
Rückkehr ins Valois dieselben Orte berührt, in fast
derselben Reihenfolge, wie wenn ein und dasselbe Motiv
nach jeder Strophe wiederkehrt. Eine solche musikalische
Form nennt man Rondo, und frz. rondeau kommt von
ronde wie Runde, Reigentanz. So hören die Leser
buchstäblich akustisch eine kreisförmige Struktur, und in
gewisser Weise sehen sie sie auch, aber undeutlich, als handle es sich um eine spiralförmige Bewegung oder um
eine sukzessive Überlagerung von Kreisen.
Darum lohnt es sich schon ein wenig, die Karte zu
rekonstruieren, um visuell zu begreifen, was uns der Text
akustisch hören läßt. Auf meiner Karte findet man
ausgehend von Loisy drei exzentrische Kreise in unter-
schiedlicher Tönung. Sie stellen die drei wichtigsten
Wanderungen dar – nicht die tatsächlich zurückgelegten
Wege, sondern die vermutlichen Zonen der Exkursion.
Der hellste Kreis umschreibt Jerards nächtliche
Wanderung in Kapitel 5 (von Loisy nach Montagny –
bzw. Mortefontaine –, aber mit einem Umweg an Saint-
S*** vorbei zum südwestlichen Rand des Waldes von
Ermenonville, dann zurück nach Loisy, während in der
Ferne Pontarmé, Thiers oder die Butte aux Gens d’Armes
zu sehen sind); der etwas dunklere Kreis umgreift Jerards
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Wanderung in Kapitel 9 (vom Ort des Balls zum Haus des
Onkels – der in Mortefontaine leben muß –, dann nach
Loisy und weiter nach Ermenonville bis zum Grabmal
Rousseaus; schließlich zurück nach Loisy); der dunkelste
Kreis umgrenzt Jerards und Sylvies Wanderung nach
Châalis in Kapitel 10 und 11 (von Loisy durch den Wald
von Ermenonville nach Châalis, dann zurück nach Loisy
über Charlepont). Die Wanderung nach Othys ist eine
einfache Hin- und Rückreise ins 18. Jahrhundert.
Der größte Kreis schließlich, der die ganze Gegend
umfaßt, entspricht den Streifzügen mit Aurélie in
Kapitel 13.
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