Die Bücher und das Paradies
Jerard bemüht sich verzweifelt, alles wieder-
zufinden, und verliert dabei den zentralen Punkt seiner
ersten Streifzüge. Er wird ihn nicht wiederfinden. Am
Ende, als Sylvie in Dammartin wohnt, gehen die Fahrten,
von denen im letzten Kapitel die Rede ist, immer nur bis
an die Ränder dieses Kreises. Jerard, Sylvie, alle sind nun
ausgeschlossen aus dem magischen Kreis des Anfangs,
den Jerard nur von weitem aus einem Fenster des Gasthofs
sieht.
In jedem Fall springt in die Augen (wie es schon an die
Ohren drang, wenn auch nur in Gestalt von in der Ferne
widerhallenden Echos), daß Jerard sich auf jeder Reise
ständig im Kreis bewegt (aber nicht wie im perfekten
Kreis des ersten Tanzes mit Adrienne, sondern eher wie
ein verwirrter Nachtfalter in einer Lampe) und nie
wiederfindet, was er das letzte Mal zurückgelassen hatte.
So daß man Georges Poulet zustimmen kann, der in dieser
kreisförmigen Struktur eine Metapher der Zeit gesehen
hat: Es ist nicht so sehr Jerard, der sich kreisförmig durch
den Raum bewegt, sondern die Zeit, es ist seine
Vergangenheit, die im Kreis um ihn tanzt.
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Das Imperfekt
Kommen wir zum ersten Satz der Erzählung zurück: Je
sortait d’un théâtre . Wir haben uns lange mit diesem Je und diesem théâtre beschäftigt, jetzt müssen wir uns dem sortait zuwenden. Das Verb steht im Imperfekt.
Das französische Imparfait ist ein duratives und häufig
auch iteratives Tempus. Es drückt stets eine Handlung aus,
die noch nicht vollständig beendet ist, und es genügt ein
kleines Stück Kontext, um festzustellen, ob die Handlung
auch iterativ ist, das heißt mehrmals vollzogen wird.
Tatsächlich verließ Jerard jenes Theater Abend für Abend,
und das seit einem Jahr.7
Man verzeihe die scheinbare Tautologie, aber das
Imperfekt heißt so, weil es tatsächlich unvollendet ist: Es
versetzt uns in eine Zeit vor der Gegenwart, in der wir
7 Schlecht dran sind Sprachen, die kein solches Imperfekt haben und sich anstrengen müssen, um diesen Nervalschen Anfang wiederzugeben. Eine englische Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert
( Sylvie: a Recollection of Valois , New York, Routledge and Sons, 1887) versucht es mit: I quitted a theater where I used to appear every night in the proscenium , eine jüngere lautet: I came out of a theater where I used to spend money every evening , und hier weiß man zwar nicht, woher diese Anspielung auf das Geldausgeben
kommt, aber vielleicht soll sie deutlich machen, daß es sich um eine Gewohnheit handelt, ein Laster, etwas, das schon seit einiger Zeit andauert (Nerval, Selected Writings , übers. v. Geoffrey Wagner, New York, Grove Press, 1957). Was tut man nicht alles, um dem Fehlen des Imperfekts abzuhelfen! Treuer erscheint mir
die jüngste Penguin-Übersetzung von Richard Sieburth ( Sylvie , Harmondsworth, 1995), die lautet: I was coming out of a theatre where, night after night, I would appear in one of the stage boxes … Sie macht den Satz ein bißchen länger, aber sie gibt das Durative und Iterative des Originals gut wieder.
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sprechen, aber es sagt nicht genau, wann diese Zeit ist und
wie lange sie dauert. Daher rührt sein Zauber. So erklärt
Proust (während er über Flaubert spricht): »Ich gestehe,
daß ein bestimmter Gebrauch des imparfait de l’indicatif –
dieser grausamen Tempusform, die uns das Leben als
etwas Vergängliches und zugleich Passives vorführt, die
im selben Moment, in dem sie unsere Handlungen ins
Gedächtnis ruft, sie als Illusion abstempelt, sie in der
Vergangenheit auslöscht, ohne uns, wie es das passe
simple tut, den Trost der Aktivität zu lassen – für mich eine unerschöpfliche Quelle mysteriöser Traurigkeit
geblieben ist.«8
Erst recht in Sylvie ist das Imperfekt das Tempus, das die Grenzen der Zeit verwischen soll. Es wird scheinbar
großzügig, aber sehr wohlüberlegt eingesetzt, so wohl-
überlegt, daß Nerval beim Übergang von der ersten zur
zweiten Version von Sylvie ein Imperfekt hinzugefügt und ein anderes gestrichen hat. 1853 schreibt Jerard im ersten
Kapitel, als er plötzlich entdeckt, daß er reich ist: »Que
dirait maintenant, pensai-je , le jeune homme de tout à l’heure« (»Was würde jetzt, dachte ich, der junge Mann
von vorhin sagen«) und dann: »Je frémis de cette pensée«
(»Ich erzitterte bei diesem Gedanken«). 1854 macht er aus
dem Passe simple pensai-je das Imperfekt pensais-je .
Tatsächlich hat das Imperfekt hier die Funktion,
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