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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Jerard bemüht sich verzweifelt, alles wieder-
    zufinden, und verliert dabei den zentralen Punkt seiner
    ersten Streifzüge. Er wird ihn nicht wiederfinden. Am
    Ende, als Sylvie in Dammartin wohnt, gehen die Fahrten,
    von denen im letzten Kapitel die Rede ist, immer nur bis
    an die Ränder dieses Kreises. Jerard, Sylvie, alle sind nun
    ausgeschlossen aus dem magischen Kreis des Anfangs,
    den Jerard nur von weitem aus einem Fenster des Gasthofs
    sieht.
    In jedem Fall springt in die Augen (wie es schon an die
    Ohren drang, wenn auch nur in Gestalt von in der Ferne
    widerhallenden Echos), daß Jerard sich auf jeder Reise
    ständig im Kreis bewegt (aber nicht wie im perfekten
    Kreis des ersten Tanzes mit Adrienne, sondern eher wie
    ein verwirrter Nachtfalter in einer Lampe) und nie
    wiederfindet, was er das letzte Mal zurückgelassen hatte.
    So daß man Georges Poulet zustimmen kann, der in dieser
    kreisförmigen Struktur eine Metapher der Zeit gesehen
    hat: Es ist nicht so sehr Jerard, der sich kreisförmig durch
    den Raum bewegt, sondern die Zeit, es ist seine
    Vergangenheit, die im Kreis um ihn tanzt.
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    Das Imperfekt
    Kommen wir zum ersten Satz der Erzählung zurück: Je
    sortait d’un théâtre . Wir haben uns lange mit diesem Je und diesem théâtre beschäftigt, jetzt müssen wir uns dem sortait zuwenden. Das Verb steht im Imperfekt.
    Das französische Imparfait ist ein duratives und häufig
    auch iteratives Tempus. Es drückt stets eine Handlung aus,
    die noch nicht vollständig beendet ist, und es genügt ein
    kleines Stück Kontext, um festzustellen, ob die Handlung
    auch iterativ ist, das heißt mehrmals vollzogen wird.
    Tatsächlich verließ Jerard jenes Theater Abend für Abend,
    und das seit einem Jahr.7
    Man verzeihe die scheinbare Tautologie, aber das
    Imperfekt heißt so, weil es tatsächlich unvollendet ist: Es
    versetzt uns in eine Zeit vor der Gegenwart, in der wir

    7 Schlecht dran sind Sprachen, die kein solches Imperfekt haben und sich anstrengen müssen, um diesen Nervalschen Anfang wiederzugeben. Eine englische Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert
    ( Sylvie: a Recollection of Valois , New York, Routledge and Sons, 1887) versucht es mit: I quitted a theater where I used to appear every night in the proscenium , eine jüngere lautet: I came out of a theater where I used to spend money every evening , und hier weiß man zwar nicht, woher diese Anspielung auf das Geldausgeben
    kommt, aber vielleicht soll sie deutlich machen, daß es sich um eine Gewohnheit handelt, ein Laster, etwas, das schon seit einiger Zeit andauert (Nerval, Selected Writings , übers. v. Geoffrey Wagner, New York, Grove Press, 1957). Was tut man nicht alles, um dem Fehlen des Imperfekts abzuhelfen! Treuer erscheint mir
    die jüngste Penguin-Übersetzung von Richard Sieburth ( Sylvie , Harmondsworth, 1995), die lautet: I was coming out of a theatre where, night after night, I would appear in one of the stage boxes … Sie macht den Satz ein bißchen länger, aber sie gibt das Durative und Iterative des Originals gut wieder.
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    sprechen, aber es sagt nicht genau, wann diese Zeit ist und
    wie lange sie dauert. Daher rührt sein Zauber. So erklärt
    Proust (während er über Flaubert spricht): »Ich gestehe,
    daß ein bestimmter Gebrauch des imparfait de l’indicatif –
    dieser grausamen Tempusform, die uns das Leben als
    etwas Vergängliches und zugleich Passives vorführt, die
    im selben Moment, in dem sie unsere Handlungen ins
    Gedächtnis ruft, sie als Illusion abstempelt, sie in der
    Vergangenheit auslöscht, ohne uns, wie es das passe
    simple tut, den Trost der Aktivität zu lassen – für mich eine unerschöpfliche Quelle mysteriöser Traurigkeit
    geblieben ist.«8
    Erst recht in Sylvie ist das Imperfekt das Tempus, das die Grenzen der Zeit verwischen soll. Es wird scheinbar
    großzügig, aber sehr wohlüberlegt eingesetzt, so wohl-
    überlegt, daß Nerval beim Übergang von der ersten zur
    zweiten Version von Sylvie ein Imperfekt hinzugefügt und ein anderes gestrichen hat. 1853 schreibt Jerard im ersten
    Kapitel, als er plötzlich entdeckt, daß er reich ist: »Que
    dirait maintenant, pensai-je , le jeune homme de tout à l’heure« (»Was würde jetzt, dachte ich, der junge Mann
    von vorhin sagen«) und dann: »Je frémis de cette pensée«
    (»Ich erzitterte bei diesem Gedanken«). 1854 macht er aus
    dem Passe simple pensai-je das Imperfekt pensais-je .
    Tatsächlich hat das Imperfekt hier die Funktion,

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