Die Bücher und das Paradies
Absatz des
dritten Kapitels), ob er eine Klosterfrau in Gestalt einer
Schauspielerin liebt – und diese Frage läßt ihn bis zum
Ende nicht mehr los.
Aber Adrienne hat nicht bloß ideale, sondern auch
physische Eigenschaften, dank welcher sie im zweiten
Kapitel den Sieg über Sylvie davonträgt, die hier als
hübsches kleines Bauernmädchen geschildert wird. Im
vierten Kapitel jedoch, als Jerard nach Jahren die zu einer
schönen jungen Frau gereifte Sylvie wiedersieht, ist sie es,
die nun alle Anmut der verschwundenen Adrienne
gewonnen hat, sowie (wenn auch nur als schwachen
Abglanz) die der Schauspielerin Aurélie, deren Erinnerung
inzwischen verblaßt ist.
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Adrienne
Sylvie (Kap. 2)
Sylvie (Kap. 4)
hochgewac
kleines
nicht
mehr
hsen
Mädchen
das kleine
Dorfmädchen
– schön
– lebhaft
und
– so
schön
frisch
geworden!
– blond
– leicht
– weiße
Arme
gebräunte Haut
– schlanke
– noch
Kind
– vollentfalteter
Figur
Wuchs
– Nachfahrin
– aus
dem
– wie
eine
der Valois
Nachbardorf
antike Statue
– Fata
– ebenmäßiges
– Züge
einer
Morgana der
Profil
Athenerin
Glorie und
Schönheit
– blieb
allein
– (sagt, sie
–
Siegerin
verdiene den Kranz
unwiderstehliche
nicht)
r Zauber
– Traum
– zarte
– ihr
einer
Freundschaft
himmlisches
unerreichbaren
Lächeln
Liebe
Nicht nur argwöhnt, fürchtet, begehrt und fingiert Jerard
bis zum Ende, entgegen jeder Evidenz, daß Aurélie und
Adrienne ein und dieselbe Person seien, sondern
manchmal glaubt er auch, daß er das, was er an ihnen
begehrt, bei Sylvie finden könne. Aus nicht genannten
Gründen verläßt er sie nach dem ersten Ball in Loisy, als
er mit ihr sogar eine symbolische Hochzeit gefeiert hat.
Als er sie dann (beim zweiten Ball) erneut aufsucht, um
der unmöglichen Faszination Aurélies zu entfliehen, findet
er, daß sie derjenigen ähnelt, vor der er flieht, und begreift, daß entweder Sylvie für ihn oder er für Sylvie verloren ist.
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Man könnte sagen, bei jeder Überblendung, bei der eine
Frauenfigur in der anderen aufg eht, wird das, w as an ihr unwirklich war, wirklich; doch gerade weil es nun in
greifbare Nähe rückt, ist es bereit, sich in etwas wieder
anderes zu verflüchtigen.
Das seltsame Übel Jerards ist, daß er immer genau das
zurückweisen muß, was er zuvor begehrt hatte, eben weil
es nun das zu werden beginnt, was er bisher angeschwärmt
hatte. Man sehe nur, wie Aurélie in Kapitel 13 genau das
wird, was er sich unbewußt erhofft: Sie gehörte einem
anderen, und dieser andere verschwindet nach Übersee;
Schauspielerinnen haben kein Herz, und nun zeigt sie sich
bereit zu lieben … Doch, ach, leider kann er das, was
erreichbar geworden ist, nicht mehr lieben. Gerade weil
sie nun ein Herz hat, geht Aurélie mit dem davon, der sie
wirklich liebt.10
Auf geradezu neurotische Weise manifestiert sich dieses
quälende Wollen und Nichtwollen in Jerards innerem
Monolog am Ende von Kapitel 11. Verletzt durch Sylvies
unklare Anspielung auf das Schicksal Adriennes, entdeckt
Jerard, der eben noch Sylvie begehrte, daß es Sünde wäre,
eine Schwester zu verführen. Gleich darauf kommt ihm
(mit einer irritierenden Wollust) Aurélie in den Sinn, und
er verlagert sein Begehren wieder auf sie. Am Anfang des
10 In einem term paper für meinen 1984 gehaltenen Kurs an der Columbia University diagnostizierte Mirène Ghossein eine
fortlaufende Dyskrasie zwischen dem, was als platonische Idee
eingeführt wird, und dem, was sich als enttäuschender Schatten an der Höhlenwand entpuppt. Ich weiß nicht, ob Nerval an Platon
dachte, aber gewiß ist dies der Mechanismus: Je greifbarer etwas zu werden scheint, desto mehr wird es zu einem Schatten und
duldet nicht mehr den Vergleich mit (entspricht nicht mehr) dem angeschwärmten Idealbild.
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nächsten Kapitels ist er jedoch erneut bereit, sich Sylvie zu
Füßen zu werfen und ihr sein Haus und sein Ungewisses
Vermögen anzubieten. Hin- und hergerissen zwischen drei
Frauen, die ihn tanzend umkreisen, verliert Jerard die
Fähigkeit, sie zu unterscheiden, und begehrt und verliert
alle drei.
1832
Im übrigen ermuntert uns Nerval selbst zu vergessen. Und
um uns dabei zu helfen (oder um uns loszuwerden)
präsentiert er uns eine vergeßliche Sylvie, die sich erst
ganz am Ende daran erinnert, daß Adrienne schon 1832
gestorben ist.
Dies ist der Punkt, der den Interpreten am
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