Die Bücher und das Paradies
meisten zu
schaffen macht. Warum wird eine so essentielle
Information erst am Ende gegeben, während wir sie, wie
eine ziemlich naive Fußnote der Edition Pléiade meint,
doch am Anfang erwartet hätten? Nerval vollführt hier
eine Operation, die Gérard Genette nachholende
Rückblende nennt: Der Erzähler tut so, als ob er etwas vergessen hätte, und trägt es mit beträchtlicher Verspätung
nach.11 Es ist nicht die einzige in der Erzählung, die
11 Die nachholende Rückblende ist nicht immer kalkulierte Technik, sondern manchmal auch bloßes Füllsel, wie bei vielen Autoren
von Fortsetzungsromanen im 19. Jahrhundert, die den Umfang
ihres Romans übermäßig aufgebläht haben und sich plötzlich
gezwungen sehen, Vergessenes nachzutragen oder Unverständ-
liches mit einer nachgeholten Erklärung zu rechtfertigen. Vgl.
hierzu meine Studie »Eugene Sue, Sozialismus und Trost«, dt. in Apokalyptiker und Integrierte , übers. von Max Looser,
Frankfurt/M., S. Fischer, 1984, S. 256 – 259.
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andere ist die beiläufige Erwähnung des Namens der
Schauspielerin, den man erst im elften Kapitel erfahrt;
aber die erscheint motivierter, denn erst in diesem
Moment, als er das Idyll mit Sylvie entschwinden sieht,
beginnt Jerard an die Schauspielerin als eine Frau zu
denken, der er sich vielleicht nähern könnte. Dagegen
klingt das nachgetragene Todesdatum mindestens skanda-
lös, zumal ihm ein Verzögerungsversuch vorausgeht, der
auf den ersten Blick schwer zu rechtfertigen ist.
Denn im elften Kapitel finden wir eine der ambi-
valentesten Ausdrucksweisen der ganzen Erzählung: cela
a mal tourné , »das hat ein trübes Ende genommen«. Für
den, der die Erzählung zum wiederholten Mal liest, nimmt
diese Anspielung Sylvies ein wenig die Enthüllung am
Ende vorweg, aber für den, der sie zum ersten Mal liest,
klingt sie wie eine Retardierung. Sylvie sagt hier noch
nicht, daß es mit Adrienne ein übles Ende genommen hat,
sondern nur, daß ihre Geschichte übel ausgegangen ist.
Darum bin ich weder einverstanden mit Übersetzungen
wie »mit ihr ist es übel ausgegangen« noch mit solchen,
die sich vorsichtiger mit einem »es ist schlecht
ausgegangen« begnügen und somit, da sie das doch so
eindeutige cela nicht zu interpretieren wagen, die
Möglichkeit offenlassen, daß Adrienne das Subjekt sein
könnte. Tatsächlich sagt Sylvie soviel wie: »die
Geschichte ist übel ausgegangen«. Warum muß man diese
Ambivalenz respektieren (die so weit geht, daß jemand
gemeint hat, aufgrund dieser Bemerkung sei Jerard noch
überzeugter, daß Adrienne die Schauspielerin geworden
sei)? Weil sie die Verzögerung bestärkt und rechtfertigt,
mit der Sylvie erst in der letzten Zeile des Textes
endgültig alle Illusionen Jerards zerstört.
Es ist nicht Zurückhaltung, was Sylvie so handeln läßt.
Für wen wäre die Information essentiell? Für Jerard, dem
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die Erinnerung an Adrienne und die Möglichkeit, sie mit
Aurélie zu identifizieren, zu einer Obsession geworden ist.
Aber für Sylvie, der Jerard seine Obsessionen noch nicht
enthüllt hat (wie er es Aurélie gegenüber tun wird), außer
durch vage Anspielungen? Für die bodenständige Sylvie
ist Adrienne viel weniger als ein Phantom (sie ist bloß eine
der vielen Pariser Damen, die durch jene Gegend
gekommen sind). Sylvie weiß nicht, daß Jerard versucht
war, die Klosterfrau mit der Schauspielerin zu identi-
fizieren, sie weiß nicht einmal genau, ob diese Schau-
spielerin existiert und wer sie ist. In diesem meta-
morphosenreichen Universum, in dem ein Bild ins andere
übergeht und alle einander überlagern, ist sie eine Fremde.
Daher kann man nicht sagen, daß sie die finale Enthüllung
tröpfchenweise preisgibt. Das tut Nerval, nicht sie.
Sylvie redet nicht aus Bosheit so unbestimmt, sondern
aus Zerstreutheit , weil sie die Sache belanglos findet. Sie trägt gerade deswegen dazu bei, den Traum Jerards zu
zerstören, weil sie nichts davon weiß . Sie hat ein
unbeschwertes Verhältnis zur Zeit, mit ein paar
befriedigten Sehnsüchten oder zarten Erinnerungen, die
ihre friedliche Gegenwart nicht in Frage stellen. Deshalb
ist sie von allen drei Frauen diejenige, die am Ende die
unerreichbarste bleibt. Mit Adrienne hat Jerard immerhin
einen magischen Augenblick erlebt, und mit Aurélie hat
er, soviel man verstehen kann, ein intimes Verhältnis
gehabt, aber mit Sylvie nichts außer einem sehr keuschen
Kuß – und in
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