Die Bücher und das Paradies
aus der Sprache geschöpft (Karl Kraus, Pro domo et mundo ) .
Dies sind Maximen, die auch Aphorismen darstellen,
während die folgenden zu lang sind, um als Aphorismen
durchgehen zu können:
1 Beitrag zu einem Kongreß über Oscar Wilde an der Universität Bologna, 9. November 2000.
85
Welch großer Vorteil ist doch der Adel: Schon mit achtzehn
Jahren versetzt er einen Menschen in höhere Position, macht ihn bekannt und geachtet, wie es ein anderer erst mit fünfzig erreichen und verdienen könnte. Das sind dreißig mühelos gewonnene Jahre (Pascal, Pensées , ed. Brunschvicg, 322).
Der Künstler hat keine ethischen Überzeugungen. Eine ethische
Überzeugung bei einem Künstler ist eine unverzeihliche
Manieriertheit des Stils (Wilde, Vorrede zum Bildnis des Dorian Gray )
Alex Falzon, der Wildes Aphorismen auf italienisch bei
Mondadori herausgebracht hat ( Aforismi , Mailand 1986), definiert den Aphorismus als eine Maxime, in der es nicht
bloß auf die Kürze der Form, sondern auch auf den Witz
und Scharfsinn des Inhalts ankomme. Damit folgt er der
heutigen Tendenz, im Aphorismus die Anmut und
Geschliffenheit höher zu achten als die Annehmbarkeit
des Gesagten unter dem Aspekt der Wahrheit. Natürlich
ist der Begriff der Wahrheit bei Maximen und Aphorismen
abhängig von den Intentionen des Aphoristikers. Zu sagen,
ein Aphorismus drücke eine Wahrheit aus, heißt zu sagen,
er wolle ausdrücken, was der Autor für wahr hält und
wovon er seine Leser überzeugen will. Doch im all-
gemeinen wollen Maximen und Aphorismen weder un-
bedingt geistreich erscheinen noch eine gängige Meinung
attackieren, sondern vielmehr einen Punkt vertiefen, in
dem die gängige Meinung oberflächlich erscheint und der
Korrektur bedarf.
Nehmen wir folgende Maxime von Chamfort: »Der
Sparsame ist der reichste aller Menschen, der Geizige der
ärmste« ( Maximes et pensées , I, 145). Hier entspringt der Witz aus der Tatsache, daß die gängige Meinung dazu
neigt, den Sparsamen als einen zu betrachten, der seine
wenigen Ressourcen nicht verschwendet, also auch seine
eigenen Bedürfnisse nur sparsam befriedigt, während der
Geizige als einer gilt, der mehr Ressourcen anhäuft, als er
86
braucht. Die Maxime scheint also der gängigen Meinung
zu widersprechen und dabei lediglich hinzunehmen, daß
»reich« in bezug auf die Ressourcen verstanden wird und
»arm« außer im moralischen Sinne auch in bezug auf die
Bedürfnisbefriedigung. Ist dieses rhetorische Spiel einmal
durchschaut, widerspricht die Maxime der gängigen
Meinung nicht mehr, sondern bekräftigt sie eher.
Widerspricht jedoch ein Aphorismus der gängigen
Meinung so heftig, daß er auf den ersten Blick falsch und
inakzeptabel erscheint und erst nach wohlüberlegter
Reduzierung seiner hyperbolischen Form als Träger einer
gerade noch akzeptablen Wahrheit erkennbar wird, so
haben wir es mit einem Paradox zu tun.
Etymologisch ist paradoxon etwas, das sich pará tēn dóxan , gegen die herrschende Meinung stellt. Daher
bezeichnet das Wort ursprünglich eine seltsame, bizzare,
unerwartete Behauptung, weitab von den Überzeugungen
der Mehrheit, und in diesem Sinne finden wir es noch bei
Isidor von Sevilla. Daß aber gerade diese seltsame
Behauptung zu einem Träger von Wahrheit werden kann,
ist ein Gedanke, der sich nur langsam durchsetzt. Bei
Shakespeare ist ein Paradox noch etwas, das in einer
bestimmten Zeit falsch ist, aber allmählich wahr werden
kann, siehe Hamlet , III, 1, 106 ff.:
Ophelia : Was meint Eure Hoheit?
Hamlet : Daß, wenn Ihr tugendhaft und schön seid, Eure Tugend keinen Verkehr mit Eurer Schönheit pflegen sollte.
Ophelia : Könnte Schönheit wohl bessern Umgang haben als mit der Tugend?
Hamlet : Ja freilich, denn die Macht der Schönheit wird eher die Tugend in eine Kupplerin verwandeln, als die Kraft der Tugend
die Schönheit sich ähnlich machen kann. Dies war einst ein
Paradox, aber nun stellt die Zeit es unter Beweis.
87
Einen besonderen Platz haben die Paradoxa der Logik:
Sie sind in sich widersprüchliche Behauptungen, bei denen
man weder beweisen kann, daß sie wahr, noch daß sie
falsch sind, wie beim Paradox des kretischen Lügners.
Aber nach und nach setzt sich auch der para-rhetorische
Sinn durch, und hier halte ich mich an die Definition im
Battaglia:2
These, Auffassung, Behauptung, Sentenz, geistreiche
Bemerkung, meist innerhalb eines ethischen oder theoretischen
Diskurses, im
Weitere Kostenlose Bücher