Die Bücher und das Paradies
Othys die noch keuschere Fiktion einer
Hochzeit. In dem Moment, als Sylvie endlich voll und
ganz das Realitätsprinzip verkörpert (und die einzige
unbezweifelbar wahre und historische Faktizität – ein
Datum – der ganzen Erzählung ausspricht), ist sie definitiv
verloren. Jedenfalls als Geliebte, denn für Jerard ist sie
82
jetzt nur noch Schwester und überdies verheiratet mit
seinem (Milch-)Bruder.
Somit wäre man versucht zu sagen, daß die Erzählung
gerade aus diesem Grund Sylvie betitelt worden ist und nicht – wie ein früheres flammendes Werk – Aurélie .
Sylvie ist die wahre verlorene und nie mehr
wiedergefundene Zeit, gerade weil sie am Ende als einzige
übrigbleibt.
Das würde allerdings eine sehr starke These implizieren,
die ihre volle Bedeutung gerade durch eine Gegen-
überstellung von Proust und Nerval gewönne: Nerval
machte sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, war
jedoch unfähig, sie wiederzufinden, und begnügte sich mit
einer Feier der Vanitas seiner Chimäre. Das von Sylvie
ausgesprochene Datum am Ende klänge dann wie der
Schlag einer Totenglocke, der die Geschichte abschließt.
Damit würde sich das liebevolle Interesse erklären, das
Proust Nerval entgegenbringt, fast wie ein Sohn dem
Vater, der bei einem verzweifelten Unternehmen ge-
scheitert ist (und vielleicht hat Labrunie sich deswegen
umgebracht). Proust hätte sich also vorgenommen, die
Niederlage des Vaters durch seinen eigenen Sieg über die
Zeit zu rächen.
Aber wann im Laufe der Handlung enthüllt Sylvie
Jerard, daß Adrienne schon lange gestorben ist? In der Zeit
t13 (»im folgenden Sommer«), als die Schauspieltruppe
Vorstellungen in Dammartin gibt. Wie immer man
rechnet, auf jeden Fall ist das lange vor jener Zeit tN, in
der Jerard zu erzählen beginnt. Mithin hat Jerard, als er
anfängt, sich den Abend nach dem Theaterbesuch ins
Gedächtnis zu rufen, um dann in Gedanken zurück-
zuschweifen zu den Zeiten des Tanzes auf der Wiese und
von der Erregung zu sprechen, die ihn bei dem Gedanken
erfaßte, Adrienne und die Schauspielerin könnten iden-
83
tisch sein, und von der Illusion, sie noch einmal in der
Nähe des Klosters von Saint-S*** sehen zu können –,
mithin hat Jerard in dieser ganzen Zeit der Handlung (und
der Erzählung) schon gewußt , daß Adrienne unbezweifel-
bar 1832 gestorben war.
Es ist also nicht so, daß Jerard (oder mit ihm Nerval) zu
erzählen aufhört, als er begreift, daß alles zu Ende ist. Im
Gegenteil, gerade nachdem er begriffen hat, daß alles zu
Ende ist, beginnt er zu erzählen (und zwar von einem Ich,
das nicht wußte und nicht wissen konnte, daß alles längst
zu Ende war).
Ist einer, der so etwas tut, ein geistig Verwirrter, der mit
seiner eigenen Vergangenheit nicht mehr zurechtkommt?
Im Gegenteil, er ist einer, der ausspricht, daß man sich an
eine Wiederbesichtigung der Vergangenheit erst dann
machen kann, wenn die Gegenwart auf Null gestellt ist,
und daß nur die Erinnerung (auch wenn sie nicht sehr
geordnet ist, und vielleicht gerade deswegen) uns etwas
wiedergibt, wofür es sich, wenn schon nicht zu leben, so
wenigstens zu sterben lohnt.
In diesem Fall hätte Proust allerdings Nerval nicht als
einen schwachen und hilflosen Vater gesehen, dessen
Versagen es wettzumachen galt, sondern als einen zu
starken Vater, den es zu überwinden galt. Und dieser
Herausforderung hätte er sein Leben gewidmet.
84
Oscar Wilde:
Paradox und Aphorismus1
Nichts ist weniger definierbar als der Aphorismus. Das
griechische Wort, eigentlich »das für eine Spende
Abgezweigte« und daher »Spende«, bekommt im Laufe
der Zeit die Bedeutung »Abgrenzung, Definition, knappe
Sentenz«. So beispielsweise die Aphorismen des Hippo-
krates. Darum ist der Aphorismus heute für unsere
gängigen Wörterbücher, wie den Zingarelli, eine »kurze
Maxime, die eine Lebensregel oder eine philosophische
Sentenz ausdrückt«.
Was unterscheidet einen Aphorismus von einer
Maxime? Nichts außer seiner Kürze.
Wenig genügt, uns zu trösten, weil wenig genügt, uns zu
betrüben (Pascal, Pensées , ed. Brunschvicg, 136).
Hätten wir keine Fehler, wäre es uns nicht ein solches
Vergnügen, die der anderen zu bemerken (La Rochefoucauld,
Maximes , 31).
Die Erinnerung ist das Tagebuch, das wir alle mit uns
herumtragen (Wilde, The Importance of Being Earnest ) .
Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in
Worte fassen könnte,
Weitere Kostenlose Bücher