Die Bücher und das Paradies
beschriebenen Standuhr,
daß in einem solchen Fall, nämlich wenn in einem
narrativen Text etwas ausführlich beschrieben wird, was
für den Gang der Handlung keinen Belang haben dürfte,
ein »symbolischer Modus« installiert wird.9 Die
Beschreibung der Standuhr im dritten Kapitel ist
exemplarisch. Warum wird diese Antiquität so ausführlich
beschrieben, wo sie doch nicht einmal in der Lage ist, dem
9 Siehe mein Semiotik und Philosophie der Sprache , dt. von Christiane Trabant-Rommel und Jürgen Trabant, München, Fink,
1985, S. 234 – 236.
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Protagonisten zu sagen, was ihm sogar die Kuckucksuhr
des Pförtners sagen kann? Weil sie ein symbolisches
Konzentrat der ganzen Erzählung ist, vor allem für die
darin beschworene Welt der Renaissance, die jene des
Valois ist, aber auch, weil sie hier sagen soll (vielleicht
mehr dem Leser als dem Erzähler), daß wir die Ordnung
der Zeiten niemals wiederherstellen werden. Aufgrund
einer schon hervorgehobenen Symmetrie taucht eine
stehengebliebene Uhr noch einmal im zwölften Kapitel
auf. Stünde sie nur dort, hätten wir es bloß mit einer
hübschen Anekdote aus der Kindheit zu tun. Aber es ist
die Wiederkehr eines Themas. Nerval sagt uns, daß die
Zeit für ihn von Anfang an dazu bestimmt war, in
Verwirrung zu geraten, oder um es mit Hamlet zu sagen,
time is out of joint – die Zeit ist aus den Fugen. Für Jerard wie für den Leser.
Die Objekte des Begehrens
Warum kann die Ordnung der Zeiten nicht wiederher-
gestellt werden? Weil Jerard sein Begehren im Laufe der
Zeit auf drei verschiedene Frauen richtet, aber die Sequenz
ist nicht linear und geradlinig, sondern verläuft als Spirale.
In dieser Spirale identifiziert Jerard bald die eine, bald die andere Frau mit seinem Objekt des Begehrens, aber oft
vermengt er sie auch, und in jedem Fall hat die Frau, wenn
sie wieder auftaucht (ob wiedergefunden oder erinnert)
nicht mehr dieselben Eigenschaften wie vorher.
Jerard hat ein Objekt des Begehrens, und er zeichnet uns
gleich zu Beginn der Erzählung seine Konturen. Es
handelt sich um eine weibliche Idealfigur, die Göttin oder
Königin sein mag, solange sie nur »unerreichbar« ist.
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Dennoch versucht er in den folgenden Kapiteln etwas zu
erreichen. Nur findet er jedesmal, sobald sein Objekt des
Begehrens sich ihm nähert, einen Grund, sich zu
entfernen. Infolgedessen betrifft der Nebeleffekt nicht nur
die Zeiten und Räume, sondern auch das Begehren.
Im ersten Kapitel scheint es, als sei für Jerard der Traum
begehrenswert und die Wirklichkeit abstoßend, und als
werde sein Ideal von der Schauspielerin verkörpert:
Traum Schauspielerin
Wirklichkeit
–
– Was tut’s, ob
– heroische
Unentschlossenh
er oder ein anderer?
Galanterie
eit und Trägheit
–
– entspricht
allen
– Jagd
nach
verschwommene
Enthusiasmen
Ämtern und
Enthusiasmen
Ehren
– religiöse
– göttliche
Hören
– vergeudete
Aspirationen
in Herkulaneum
Stunden des
Tages
– berauscht
von
– läßt vor Freude
–
Poesie und Liebe
und Liebe
Skeptizismus
erschauern
und wilde
Orgien
–
– bleich
wie
die
– die
metaphysische
Nacht
wirkliche Frau
Phantome
– unnahbare
– (er will nicht
– Laster
Königin oder
wissen, wie sie
Göttin
wirklich ist)
Bis zu diesem Punkt ist die Bühne wirklicher als der
Zuschauerraum, und gemessen an der Schauspielerin sind
die Zuschauer nichts als »ausdruckslose Figuren«. Im
zweiten Kapitel scheint Jerard jedoch etwas Greifbareres
zu begehren, sei’s auch nur durch Erinnerung an den
einzigen Moment, in dem er ihm nahe gekommen war.
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Alle Qualitäten der Schauspielerin, die er nur auf der
Bühne gesehen hat, besitzt nun Adrienne, wie er sie im
bleichen Lichtkreis auf der nächtlichen Wiese erblickt.
Aurélie (Kap. 1)
Adrienne (Kap. 2)
– bleich wie die Nacht
– das Licht des
aufgehenden Mondes fällt auf
sie allein
– sie lebte nur für mich
– ich war der einzige Junge
– die Vibration ihrer
– mit frischer und heller
Stimme
Stimme
– magischer
Spiegel
– flüchtiges
Irrlicht
– eine Erscheinung
– ein Phantom, das über
die Gräser huscht
– schön wie der Tag
– Fata Morgana des
Ruhmes und der Schönheit
– wie die göttlichen Horen
– hat das Blut der Valois in
ihren Adern
– ihr Lächeln erfüllte mich
– wir fühlten uns wie im
mit unendlicher Seligkeit
Paradies
Darum fragt sich Jerard dann (im zweiten
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