Die Bücher und das Paradies
was wir schon wußten und glaubten,
nämlich daß das Harmonium ein Kircheninstrument ist.
Vom Alkohol zu sagen, er sei »eine Flüssigkeit, welche
die Lebenden tötet und die Toten konserviert«, fügt dem,
was wir über die Gefahren der Trunksucht und die
Gebräuche in anatomischen Instituten wußten, nichts
hinzu.
Wenn Pitigrilli (in Esperimento di Pott , Mailand,
Sonzogno, 1929) seinen Protagonisten sagen läßt: »Intelli-
genz bei Frauen ist eine Anomalie, die so selten auftritt
wie Albinotum, Linkshändigkeit, Hermaphroditismus oder
Polydaktilie«, dann sagt er genau das, wenn auch auf
witzige Weise, was der männliche Leser (und vermutlich
auch die weibliche Leserin von 1929) zu lesen erwarteten.
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Doch, bei aller Kritik an seiner vis aphoristica , sagt Pitigrilli noch etwas mehr, nämlich daß viele glänzende
Aphorismen auch umgedreht werden können, ohne
dadurch an Kraft zu verlieren. Sehen wir uns einige der
von ihm selbst vorgebrachten Beispiele solcher Um-
kehrung an ( Dizionario , cit., S. 199 ff.):
Viele verachten die Reichtümer, aber nur wenige wissen sie zu
verschenken.
Viele wissen Reichtümer zu verschenken, aber nur wenige
verachten sie.
Wir versprechen gemäß unseren Befürchtungen und halten
gemäß unseren Hoffnungen.
Wir versprechen gemäß unseren Hoffnungen und halten gemäß
unseren Befürchtungen.
Die Geschichte ist nur ein Abenteuer der Freiheit.
Die Freiheit ist nur ein Abenteuer der Geschichte.
Das Glück liegt in den Dingen und nicht in unserem Geschmack.
Das Glück liegt in unserem Geschmack und nicht in den Dingen.
Überdies stellt er Maximen verschiedener Autoren zu-
sammen, die zwar einander widersprechen, aber dennoch
eine gesicherte Wahrheit auszudrücken scheinen:
Man täuscht sich nur aus Optimismus (Hervieu).
Man wird öfter durch Mißtrauen als durch Vertrauen getäuscht (Rivarol).
Die Völker wären glücklich, wenn die Könige philosophierten
und die Philosophen regierten (Plutarch).
Wenn ich eine Provinz bestrafen will, werde ich sie von einem Philosophen regieren lassen (Friedrich II.).
Ich werde für diese umkehrbaren Aphorismen hier den
Begriff »kanzerisierbare Aphorismen« verwenden. Der
kanzerisierbare –
also krebsanfällige
– Aphorismus ist
eine Krankheit der Neigung zum Witz oder Aperçu, mit
anderen Worten, eine Maxime, die sich, solange sie nur
geistreich erscheint, nicht darum schert, daß ihr Gegenteil
ebenso wahr ist. Das Paradox ist eine reale Umkehrung
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des Gewohnten, die eine inakzeptable Welt präsentiert,
weshalb es erst einmal Widerstand und Ablehnung
hervorruft, dann aber, wenn man es genauer bedenkt,
Erkenntnis produziert; am Ende erscheint es geistreich,
weil man zugeben muß, daß es wahr ist. Der kanzerisier-
bare Aphorismus ist demgegenüber lediglich Träger einer
partiellen Wahrheit, und oft enthüllt er, sobald er
kanzerisiert worden ist, daß keine der beiden behaupteten
Ansichten wahr ist. Es schien nur so, weil er witzig
formuliert war.
Das Paradox ist jedoch keine Abart des klassischen
Topos der »verkehrten Welt«. Dieser ist bloß mechanisch,
er führt eine Welt vor, in der Tiere sprechen und Men-
schen brüllen, Fische fliegen und Vögel schwimmen,
Affen die Messe lesen und Bischöfe auf den Bäumen
herumspringen. Er operiert mit einer Aneinanderreihung
von adynata oder impossibilia ohne Logik. Er ist ein Karnevalsjux.
Um Paradox zu werden, muß die Umkehrung einer
Logik folgen und auf einen Teil der Welt begrenzt sein.
Ein Perser kommt nach Paris und beschreibt Frankreich
so, wie ein Pariser Persien beschreiben würde. Die
Wirkung ist paradox, weil sie den Leser zwingt, die Dinge
anders als in der gewohnten Perspektive zu sehen.
Eine der Prüfungen, durch die sich ein Paradox von
einem kanzerisierbaren Aphorismus unterscheiden läßt, ist
der Versuch, es umzukehren. Pitigrilli zitiert eine Defi-
nition des Zionismus von Tristan Bernard, die offen-
sichtlich vor der Gründung des Staates Israel formuliert
worden sein muß: »wenn ein Jude einen anderen Juden um
Geld bittet, um einen dritten Juden nach Palästina zu
schicken.« Man probiere nur, das umzukehren: Es geht
nicht. Woran man sieht, daß die korrekte Form tatsächlich
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eine Wahrheit enthielt – oder jedenfalls das, was Bernard
als Wahrheit anerkannt haben wollte.
Nehmen wir nun eine Reihe berühmter Paradoxa von
Karl Kraus. Ich versuche gar nicht, sie umzukehren, da
das, wie sich
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