Die Bücher und das Paradies
wiedergelesen,
scheint das eine sehr borgesianische Geschichte zu sein,
aber es ist klar, daß ich als Zehnjähriger noch nicht Borges
gelesen haben konnte (in einer fremden Sprache).
Ebensowenig konnte ich die Utopien des 16., 17. oder
18.
Jahrhunderts über ideale Gemeinschaften kennen.
Aber ich hatte viele Abenteuerbücher gelesen, natürlich
auch Märchen und sogar eine für Kinder eingerichtete
Fassung von Gargantua und Pantagruel , und wer weiß, was für chemische Verbindungen sich in meiner Phantasie
gebildet hatten.
Der Zeitgeist kann sogar an Umkehrungen des Zeitpfeils
denken lassen. Ich erinnere mich, daß ich mit sechzehn
Jahren (also etwa 1948) kleine Erzählungen über Planeten
geschrieben hatte: Geschichten, deren Protagonisten die
Erde oder der Mond waren oder Venus, die sich in die
Sonne verliebte, und dergleichen. Es waren auf ihre Weise
Cosmicomics . Ich amüsiere mich manchmal bei dem
Gedanken, wie Calvino es angestellt haben mag, viele
Jahre später in mein Haus einzubrechen und diese meine
Jugendschriften zu finden. Natürlich scherze ich, aber ich
will damit sagen, daß man manchmal an den Zeitgeist
glauben muß. In jedem Fall, Sie werden’s nicht glauben,
sind Calvinos Cosmicomics besser als meine.
Schließlich gibt es Themen, die vielen Autoren
gemeinsam sind, weil sie gewissermaßen direkt aus der
154
Wirklichkeit kommen. Ich erinnere mich zum Beispiel,
wie viele Leute nach dem Erscheinen des Namens der
Rose andere Bücher fanden, in denen eine Abtei in
Flammen aufging, von denen ich viele niemals gelesen
hatte. Und niemand hat bedacht, daß es im Mittelalter
erste Pflicht der Abteien wie auch der Kathedralen war, in
Flammen aufzugehen.
Ohne mich allzu streng an mein Schema zu halten,
möchte ich nun versuchen, meine Triade der Intentionen –
intentio auctoris, intentio operis, intentio lectoris 3 – um die intentio intertextualitatis zu erweitern, die in diesem Zusammenhang eine gewisse Rolle spielen müßte.
Erlauben Sie mir, erneut in ungeordneter Weise über drei
Arten von Beziehung zu Borges zu reflektieren: die Fälle,
in denen ich mir seines Einflusses sehr bewußt war, die
Fälle, ich denen ich mir seines Einflusses nicht bewußt
war, aber dann von den Lesern (darunter von Ihnen wäh-
rend dieser Tage) gezwungen wurde, einen unbewußten
Einfluß anzuerkennen, und c) die Fälle, in denen man,
wenn man nicht per Dreieck auf frühere Quellen und das
Universum der Intertextualität zurückgeht, dazu verleitet
werden kann, etwas für eine bipolare oder direkte
Beeinflussung zu halten, was in Wirklichkeit eine tripolare
oder mittelbare Beeinflussung ist und die Schulden
betrifft, die Borges beim Universum der Kultur hatte, so
daß man nicht Borges zuschreiben kann, was er immer
stolz als seine Entnahmen aus der allgemeinen Kultur
deklariert hatte. Nicht zufällig haben wir ihn ja gestern
einen »deliranten Archivar« genannt, und Borges’
Delirium kann es nicht ohne das Archiv geben, an und in
3 Autor-, Werk- und Leser-Intention, vgl. Ecos Untersuchung Die Grenzen der Interpretation , Hanser 1992, S. 35 ff. (A. d. Ü.).
155
dem er gearbeitet hat. Ich glaube, wenn man zu ihm gesagt
hätte: »Das-und-das hast du erfunden«, hätte er
geantwortet: »Nein, nein! Das war schon vorher da.« Und
er hätte sich stolz jenen Satz von Pascal zu eigen gemacht,
den ich als Motto meinem Trattato di semiotica generale 4
vorangestellt habe: »Man sage nicht, ich hätte nichts
Neues gesagt: Die Anordnung des Stoffes ist neu.«
Dies sage ich nicht, um meine Schulden zu verleugnen,
die zahlreich sind, sondern um Sie und uns auf ein Prinzip
zurückzuführen, das meiner Ansicht nach grundlegend ist,
sowohl für alle, die an diesem Kongreß teilgenommen
haben, ganz sicher für mich, als auch ohne Zweifel für
Borges: Das Wichtigste ist, daß die Bücher miteinander
sprechen.
1955 kamen die Ficciones in Italien unter dem Titel La biblioteca di Babele bei Einaudi heraus. Das Buch war dem Verlag von Sergio Solmi vorgeschlagen worden,
einem großen Dichter, den ich sehr mochte, auch wegen
eines Essays über Science-fiction als Modalität des
Phantastischen, den er einige Jahre zuvor geschrieben
hatte. Hier können Sie sehen, wie der Zeitgeist spielt:
Solmi entdeckt Borges, während er nordamerikanische
Science-fiction-Autoren liest, die (womöglich ohne sich
dessen bewußt zu sein) in der Tradition des utopischen
Erzählens
Weitere Kostenlose Bücher