Die Bücher und das Paradies
schreiben, die im 17. – 18. Jahrhundert beginnt.
Vergessen wir nicht, daß Bischof Wilkins neben seinem
Essay towards a Real Character auch ein Buch über die Bewohner des Mondes geschrieben hat, mithin ist auch er
wie Godwin und viele andere bereits durch andere Welten
4 Deutsch:
Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen , übers. v.
Günter Memmen, München, Fink, 1987, S. 13 (A. d. Ü.).
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gereist. Ich glaube, es war 1956 oder 57, daß Solmi mir
eines Abends, während wir über die Piazza del Duomo
gingen, sagte:
»Dieses Buch habe ich Einaudi empfohlen, wir haben
keine fünfhundert Stück davon verkaufen können. Lesen
Sie es, es ist sehr schön.« So kam es, daß ich mich das
erste Mal in Borges verliebte, und ich erinnere mich, wie
ich als einziger Besitzer eines Exemplars mit dem Buch zu
Freunden ging, um ihnen Abschnitte aus dem »Pierre
Menard« vorzulesen.
Zu jener Zeit hatte ich gerade begonnen, jene Parodien
zu schreiben, die dann als Diario minimo 5 erscheinen
sollten. Ausgehend wovon? Vielleicht war der stärkste
Einfluß der des Proust der Pastiches et mélanges gewesen (so sehr, daß ich Jahrzehnte später, als Diario minimo in Frankreich herauskam, dafür den Titel Pastiches et
postiches gewählt habe). Aber ich weiß noch, daß ich
1963, als das Büchlein erscheinen sollte, bei der Suche
nach einem Titel daran gedacht hatte, einen von Vittorini
zu zitieren, nämlich Piccola borghesia , nur wollte ich ihn zu Piccola Borgesia verändern. Dies nur, um zu sagen, wie sich damals ein Spiel von Einflüssen und
Bezugnahmen abzuzeichnen begann.
Freilich hätte ich mir eine Bezugnahme auf Borges
damals nicht erlauben können, da ihn noch kaum jemand
in Italien kannte. Erst in den sechziger Jahren wurde er
definitiv und mit allen seinen Werken bei uns heimisch,
vor allem durch Vermittlung von Domenico Porzio, einem
teuren Freund, der ein Mann von großer geistiger
Offenheit und Belesenheit, dabei aber traditionsverhafteter
5 1963; deutsch Platon im Striptease-Lokal. Parodien und
Travestien , Hanser 1990 (A. d. Ü.).
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Kritiker ist. Borges galt bei uns in der Zeit, als wir den
Streit über die Neoavantgarden austrugen, nicht als ein
avantgardistischer Schriftsteller. Es war die Zeit, in der die Novissimi erschienen und dann die Gruppe 63, und die Vorbilder waren Joyce und Gadda. Die Neoavantgarde
interessierte sich für ein experimentelles Schreiben, das
am Signifikanten arbeitete (das Modell war das der
unlesbaren Bücher). Borges dagegen, der in einer
klassischen Sprache schrieb, arbeitete an den Signifikaten und infolgedessen war er für uns alle ein Outlaw, eine
verwirrende, schwer einzuordnende Gestalt. Um es grob
zu sagen: Während Joyce oder Robbe-Grillet links stan-
den, stand Borges rechts. Und da ich diese Unterscheidung
nicht im politischen Sinn verstanden wissen möchte,
könnte ich es auch umgekehrt sagen, und der Gegensatz
bliebe derselbe.
In jedem Fall war Borges für einige von uns nur so etwas
wie eine »private Liebe«. Erst später, nach einem langen
Umweg, ist er von den Neoavantgarden anerkannt und
adoptiert worden.
Zu Beginn der sechziger Jahre war das Phantastische
entweder traditionelle Erzählung oder Science-fiction,
weshalb es zwar vorkam, daß jemand einen Aufsatz über
Science-fiction und das Phantastische schrieb, aber das
hatte nichts mit Literaturtheorie zu tun. Ich glaube, das
Interesse für Borges setzte Mitte der sechziger Jahre mit
dem ein, was man die strukturalistische und semiologische
Welle genannt hat.
Hier muß noch ein anderer Irrtum korrigiert werden, der
immer wieder auftaucht, auch in Werken, die sich als
wissenschaftlich verstehen: Es heißt heutzutage, die italie-
nische Neoavantgarde (die Gruppe 63) sei strukturalistisch
gewesen. In Wahrheit interessierte sich niemand außer mir
für strukturalistische Sprachwissenschaft, und bei mir war
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es ein Privatvergnügen, entstanden im universitären
Milieu zwischen Pavia (Cesare Segre, Maria Corti, Silvio
D’Arco Avalle) und Paris (meine Begegnungen mit
Roland Barthes).
Warum meine ich, das Interesse für Borges sei mit dem
Strukturalismus entstanden? Nun, eben weil Borges sein
experimentelles Schreiben nicht an den Wörtern, sondern
an den begrifflichen Strukturen festmachte und weil man
nur mit einer strukturalistischen Methode anfangen
konnte, seine Arbeit zu analysieren und zu verstehen.
Als ich dann den Namen der Rose
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