Die Bücher und das Paradies
mir in
diesen Tagen für jeden Beitrag ein paar Antworten und
Ergänzungen notiert und dann beschlossen, die Beiträge
nicht einzeln jeden für sich zu diskutieren.
Statt dessen möchte ich lieber die vielfältigen
Anregungen, die ich von Ihnen allen erhalten habe, dazu
nutzen, hier einmal über den Begriff des Einflusses zu
sprechen. Er ist ein wichtiger Begriff für die Kritik, für die Literaturgeschichte und für die Narratologie; und er ist ein
gefährlicher Begriff. Mehr als einmal in diesen Tagen
habe ich die Gefahr gespürt, und darum möchte ich hier
darüber sprechen.
1 Gekürzte Fassung des Schlußbeitrags zu dem Kongreß
»Relaciones literarias entre Jorge Luis Borges y Umberto Eco« an der Universidad de Castilla-La Mancha (unter Mitwirkung des
Department of Italian Studies und des Emilio Goggio Chair der
University of Toronto) im Mai 1997.
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Wenn man von einer Einflußbeziehung zwischen zwei
Autoren A und B spricht, können zwei verschiedene
Situationen vorliegen:
1.) A und B haben in derselben Zeit geschrieben. Wir
könnten zum Beispiel diskutieren, ob es eine Einfluß-
beziehung zwischen Proust und Joyce gegeben hat. Es hat
keine gegeben; die beiden sind sich nur einmal begegnet,
und jeder hat über den anderen mehr oder weniger gesagt:
»Er ist mir unsympathisch, ich habe wenig oder nichts von
seinen Sachen gelesen.«
2.) A geht B zeitlich voraus, wie es beim Thema dieses
Kongresses der Fall ist, weshalb die Diskussion nur den
Einfluß von A auf B betrifft.
In beiden Fällen kann man jedoch über den Begriff des
Einflusses in der Literatur, in der Philosophie und sogar in
der wissenschaftlichen Forschung nicht sprechen, wenn
man nicht ein Dreieck mit einem X an der Spitze zeichnet.
Wollen wir dieses X allgemein »die Kultur« nennen, die
Kette der vorausgegangenen Einflüsse? Um uns an die
Sprechweise dieser Tage zu halten, werden wir es das
Universum der Enzyklopädie nennen. Auf jeden Fall muß
man dieses X bedenken, und das nirgends so sehr wie im
Falle von Borges, der wie Joyce, wenn auch auf andere
Weise, die universale Kultur als Spielfeld benutzt hat.
Das Verhältnis von A zu B kann sich auf verschiedene
Weise bestimmen: 1.) B findet etwas im Werk von A und
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weiß nicht, daß X dahintersteht; 2.) B findet etwas im
Werk von A und geht durch das Werk von A auf X
zurück; 3.) B bezieht sich auf X und bemerkt erst später,
daß X im Werk von A enthalten war.
Ich habe nicht vor, eine präzise Typologie meiner
Beziehungen zu Borges aufzustellen, und ich werde nur
einige fast zufällig herausgegriffene Beispiele zitieren.
Andere mögen sie dann irgendwann auf die Ecken des
Dreiecks verteilen. Außerdem sind diese Elemente oft
miteinander vermischt, denn in den Begriff des Einflusses
muß man auch den der Zeitbedingtheit der Erinnerung mit
einbeziehen: Ein Autor kann sich sehr gut an etwas
erinnern, was er bei einem anderen Autor im Jahre – sagen
wir – 1958 gelesen hat, kann es dann 1980, während er
etwas Eigenes schreibt, vergessen haben, und es 1990
wiederentdecken (oder sich plötzlich wieder daran
erinnern). Man könnte eine Psychoanalyse der Beein-
flussungen entwickeln. So hat man zum Beispiel in
meinen Romanen Einflüsse gefunden, deren ich mir voll
bewußt war, andere, die nicht stattgefunden haben
konnten, da ich die betreffenden Quellen gar nicht kannte,
und wieder andere, die mich überraschten, aber über-
zeugten – wie als Giorgio Celli in Der Name der Rose
einen Einfluß der historischen Romane von Dmitri
Mereshkowski entdeckte und ich zugeben mußte, daß ich
diese Romane als Zwölfjähriger gelesen hatte, auch wenn
mir das später völlig entfallen war.
Im übrigen ist das Diagramm nicht so einfach, denn
außer A und B und der manchmal tausendjährigen Kette,
die von X dargestellt wird, gibt es auch noch den
Zeitgeist2. Der Zeitgeist muß nicht als metaphysischer
2 Im
Original
deutsch:
lo Zeitgeist (A. d. Ü.).
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oder metahistorischer Begriff aufgefaßt werden, ich denke,
man kann ihn in eine Kette wechselseitiger Einflüsse
zerlegen, aber das Besondere daran ist, daß er auch im
Kopf eines Kindes am Werk sein kann. Vor einiger Zeit
habe ich in alten Schubladen ein frühes Opus von mir
gefunden, das ich als Zehnjähriger geschrieben hatte: das
Tagebuch eines Zauberers, der sich als Entdecker,
Kolonisator und Reformator einer Insel im arktischen
Eismeer namens Ghianda ausgab. Heute
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