Die Bücher und das Paradies
Schemata zu ersinnen.«
Borges wußte, daß manche Entwürfe, wie der von Wilkins
und viele der Naturwissenschaften, zu einer proviso-
rischen und partiellen Ordnung zu gelangen versuchen. Er
selbst hat jedoch die umgekehrte Wahl getroffen: Wenn
die kleinsten Elemente der Erkenntnis viele sind, besteht
das Spiel des Poeten darin, sie rotieren zu lassen und sie
ad infinitum immer neu zu kombinieren, in der
unendlichen Kombinatorik nicht nur der kleinsten
sprachlichen Teile, sondern eben auch der Ideen.
Millionen neuer chinesischer Enzyklopädien, neuer
»Himmlischer Wortschätze wohltätiger Erkenntnisse«,
deren nie vollendete Summe eben die Bibliothek von
Babel ist. Eine Bibliothek, die Borges als Aufbewahrungs-
stätte der Kultur von Jahrtausenden und der Tagebücher
eines jedes Erzengels ausgemacht hat, wonach er sich aber
nicht damit begnügt hat, bloß ihre Form und Anlage zu
erkunden: Er hat auch spielerisch probiert, verschiedene
Sechsecke miteinander in Kontakt zu bringen, die Seiten
eines Buches zwischen die eines anderen einzufügen (oder
zumindest die möglichen Bücher zu finden, in denen solch
eine Unordnung schon realisiert worden ist).
Man redet heute viel über die letzte Form des
experimentellen Schreibens, die Postmoderne, das Spiel
mit der Intertextualität.
Aber Borges hatte die Intertextualität überwunden, um
die Ära der Hypertextualität vorwegzunehmen, in der
nicht nur ein Buch vom anderen spricht, sondern in der
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man aus dem Inneren eines Buches ins Innere eines
anderen Buches gelangen kann. Borges hat – nicht so sehr
durch den Entwurf der Form seiner Bibliothek, sondern
indem er auf jeder Seite beschrieb, wie man sie zu
durchlaufen hat – das World Wide Web vorweggenommen.
Borges mußte sich entscheiden, ob er sein Leben der
Suche nach der geheimen Sprache Gottes widmen sollte
(einer Suche, von der er erzählt), oder ob er das
vieltausendjährige Universum des Wissens als Tanz von
Atomen feiern sollte, als Geflecht von Atomen und
Zusammenballung von Ideen, um nicht nur all das zu
produzieren, was gewesen war und noch ist, sondern auch
das, was sein wird oder werden könnte, so wie es die
Pflicht und Möglichkeit der Bibliothekare von Babel ist.
Nur im Licht dieses Borgesschen Experimentierens (mit
Ideen, nicht mit Wörtern) versteht man die Poetik des
Aleph , jenes Punktes, von dem aus man mit einem Schlag all die unzähligen und zusammenhanglosen Dinge sieht,
aus denen sich das Universum zusammensetzt. Man muß
alles auf einmal sehen können, und dann muß man das
Kriterium der Zusammenballung verändern und anderes
sehen, indem man jedesmal einen anderen Himmlischen
Wortschatz wählt.
An diesem Punkt wird die Frage, ob die Bibliothek
unendlich oder von unbegrenzter Weite ist und ob die Zahl
der in ihr beherbergten Bücher endlich oder unbegrenzt
und periodisch ist, sekundär. Der wahre Held der
Bibliothek von Babel ist nicht die Bibliothek selbst,
sondern ihr Leser, ein neuer Don Quijote, mobil, aben-
teuerlustig, unerschöpflich erfindungsreich, bereit zu
alchimistischen Kombinationen, fähig zur Beherrschung
der Windmühlen, die er unentwegt rotieren läßt.
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Diesem Leser hat Borges ein Gebet und Glaubens-
bekenntnis nahegelegt, und das ausgerechnet in dem
anderen Gedicht für Joyce:
Entre el alba y la noche está la historia
universal. Desde la noche veo
a mis pies los caminos del hebreo,
Cartago aniquilada, Infierno y Gloria.
Dame, Señor, coraje y alegría
para escalar la cumbre de este día.
Zwischen Morgenröte und Nacht liegt
die Weltgeschichte. In der Nacht sehe ich
zu meinen Füßen die Wege des Hebräers,
Karthago vernichtet, Hölle und Ruhm.
Herr, gib mir Mut und Freude,
den Gipfel dieses Tags zu erklimmen.8
8 Lob des Schattens , deutsch von BK.
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Borges und meine Angst
vor dem Einfluß1
Ich habe immer die Ansicht vertreten, daß man zu
Kardiologenkongressen keine Herzpatienten einladen
sollte. Meine Pflicht wäre, außer Ihnen für die vielen
Freundlichkeiten zu danken, die Sie mir in diesen Tagen
gesagt haben, mich jedes Kommentars zu enthalten, getreu
meiner These, daß ein einmal fertiggestellter und
veröffentlichter Text eine Botschaft ist, die man einer
Flaschenpost anvertraut hat. Was nicht heißt, daß man
diese Botschaft lesen kann, wie es einem gerade paßt und
beliebt, sondern daß man sie wie die Hinterlassenschaft
eines Verstorbenen lesen sollte. Darum habe ich
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