Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
Schemata zu ersinnen.«
    Borges wußte, daß manche Entwürfe, wie der von Wilkins
    und viele der Naturwissenschaften, zu einer proviso-
    rischen und partiellen Ordnung zu gelangen versuchen. Er
    selbst hat jedoch die umgekehrte Wahl getroffen: Wenn
    die kleinsten Elemente der Erkenntnis viele sind, besteht
    das Spiel des Poeten darin, sie rotieren zu lassen und sie
    ad infinitum immer neu zu kombinieren, in der
    unendlichen Kombinatorik nicht nur der kleinsten
    sprachlichen Teile, sondern eben auch der Ideen.
    Millionen neuer chinesischer Enzyklopädien, neuer
    »Himmlischer Wortschätze wohltätiger Erkenntnisse«,
    deren nie vollendete Summe eben die Bibliothek von
    Babel ist. Eine Bibliothek, die Borges als Aufbewahrungs-
    stätte der Kultur von Jahrtausenden und der Tagebücher
    eines jedes Erzengels ausgemacht hat, wonach er sich aber
    nicht damit begnügt hat, bloß ihre Form und Anlage zu
    erkunden: Er hat auch spielerisch probiert, verschiedene
    Sechsecke miteinander in Kontakt zu bringen, die Seiten
    eines Buches zwischen die eines anderen einzufügen (oder
    zumindest die möglichen Bücher zu finden, in denen solch
    eine Unordnung schon realisiert worden ist).
    Man redet heute viel über die letzte Form des
    experimentellen Schreibens, die Postmoderne, das Spiel
    mit der Intertextualität.
    Aber Borges hatte die Intertextualität überwunden, um
    die Ära der Hypertextualität vorwegzunehmen, in der
    nicht nur ein Buch vom anderen spricht, sondern in der
    148
    man aus dem Inneren eines Buches ins Innere eines
    anderen Buches gelangen kann. Borges hat – nicht so sehr
    durch den Entwurf der Form seiner Bibliothek, sondern
    indem er auf jeder Seite beschrieb, wie man sie zu
    durchlaufen hat – das World Wide Web vorweggenommen.
    Borges mußte sich entscheiden, ob er sein Leben der
    Suche nach der geheimen Sprache Gottes widmen sollte
    (einer Suche, von der er erzählt), oder ob er das
    vieltausendjährige Universum des Wissens als Tanz von
    Atomen feiern sollte, als Geflecht von Atomen und
    Zusammenballung von Ideen, um nicht nur all das zu
    produzieren, was gewesen war und noch ist, sondern auch
    das, was sein wird oder werden könnte, so wie es die
    Pflicht und Möglichkeit der Bibliothekare von Babel ist.
    Nur im Licht dieses Borgesschen Experimentierens (mit
    Ideen, nicht mit Wörtern) versteht man die Poetik des
    Aleph , jenes Punktes, von dem aus man mit einem Schlag all die unzähligen und zusammenhanglosen Dinge sieht,
    aus denen sich das Universum zusammensetzt. Man muß
    alles auf einmal sehen können, und dann muß man das
    Kriterium der Zusammenballung verändern und anderes
    sehen, indem man jedesmal einen anderen Himmlischen
    Wortschatz wählt.
    An diesem Punkt wird die Frage, ob die Bibliothek
    unendlich oder von unbegrenzter Weite ist und ob die Zahl
    der in ihr beherbergten Bücher endlich oder unbegrenzt
    und periodisch ist, sekundär. Der wahre Held der
    Bibliothek von Babel ist nicht die Bibliothek selbst,
    sondern ihr Leser, ein neuer Don Quijote, mobil, aben-
    teuerlustig, unerschöpflich erfindungsreich, bereit zu
    alchimistischen Kombinationen, fähig zur Beherrschung
    der Windmühlen, die er unentwegt rotieren läßt.
    149
    Diesem Leser hat Borges ein Gebet und Glaubens-
    bekenntnis nahegelegt, und das ausgerechnet in dem
    anderen Gedicht für Joyce:
    Entre el alba y la noche está la historia
    universal. Desde la noche veo
    a mis pies los caminos del hebreo,
    Cartago aniquilada, Infierno y Gloria.
    Dame, Señor, coraje y alegría
    para escalar la cumbre de este día.

    Zwischen Morgenröte und Nacht liegt
    die Weltgeschichte. In der Nacht sehe ich
    zu meinen Füßen die Wege des Hebräers,
    Karthago vernichtet, Hölle und Ruhm.
    Herr, gib mir Mut und Freude,
    den Gipfel dieses Tags zu erklimmen.8

    8 Lob des Schattens , deutsch von BK.
    150
    Borges und meine Angst
    vor dem Einfluß1
    Ich habe immer die Ansicht vertreten, daß man zu
    Kardiologenkongressen keine Herzpatienten einladen
    sollte. Meine Pflicht wäre, außer Ihnen für die vielen
    Freundlichkeiten zu danken, die Sie mir in diesen Tagen
    gesagt haben, mich jedes Kommentars zu enthalten, getreu
    meiner These, daß ein einmal fertiggestellter und
    veröffentlichter Text eine Botschaft ist, die man einer
    Flaschenpost anvertraut hat. Was nicht heißt, daß man
    diese Botschaft lesen kann, wie es einem gerade paßt und
    beliebt, sondern daß man sie wie die Hinterlassenschaft
    eines Verstorbenen lesen sollte. Darum habe ich

Weitere Kostenlose Bücher