Die Bücher und das Paradies
sondern zur Individuation jener Text-
strategie, die ich symbolischen Modus zu nennen be-
schlossen habe?
Die Anregung hat uns vor einiger Zeit ein
leidenschaftlicher, notgedrungen entschlossener Er-
forscher zweiter Bedeutungen gegeben: Augustinus. Wenn
uns etwas in der Heiligen Schrift, obwohl es semantisch
verständlich ist, irgendwie sonderbar vorkommt, über-
flüssig, überschüssig, unerklärlich auffällig, dann muß
nach einem zweiten Sinn gesucht werden, der sich
dahinter verbirgt. Die Aufmerksamkeit für den symbo-
lischen Modus ergibt sich aus der Entdeckung, daß etwas
im Text steht und einen Sinn ergibt, obwohl es ebensogut
auch fehlen könnte, so daß man sich fragt, warum es
dasteht. Dieses Etwas ist nicht Metapher, denn sonst
würde es den gesunden Menschenverstand beleidigen,
würde die stumpfe Reinheit der Nullstufe des Schreibens
verunreinigen. Es ist nicht Allegorie, denn es verweist
nicht auf irgendeinen heraldischen Kode. Es steht da, es
stört uns nicht weiter, es verlangsamt höchstens ein
bißchen die Lektüre, aber die Vergeudung, die es darstellt,
seine unschuldige Inkongruenz, seine aus ökonomischer
Sicht unangebrachte Präsenz lassen vermuten, daß es
dasteht, um etwas anderes zu besagen.
Gerade die Unwesentlichkeit, die scheinbare Grund-
losigkeit dieser Figur macht sie totemisch. Gerade die
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Frage, die sie uns nahelegt (»Warum stehst du da, an
dieser Stelle?«), treibt uns zu immer weiteren unbeant-
worteten Fragen. Es ist dies einer der seltenen Fälle, in
denen nicht unsere dekonstruktive Hybris, sondern der
Text selbst zur Abdrift einlädt.
Warum braucht Montale gut sechzig »Alte Verse«, um
zu erzählen, wie eines Abends ein »scheußlicher
Nachtfalter mit spitzem Rüssel« ins Zimmer eindringt, an
den Lampenschirm stößt, daß die Fransen erzittern, und
hektisch umherzuckend die Kartenhäuser auf dem Tisch
einstürzen läßt? Es ist gerade die Belanglosigkeit der
Erfahrung, die sie totemisch macht, e fu per sempre / con
le cose che chiudono in un giro / sicuro come il giorno, e la memoria / in sé le cresce – »und war für immer / eines der Dinge, die in einem Kreis / sich schließen wie der Tag,
und das Gedächtnis / läßt sie wachsen«.6
Warum sagt uns T. S. Eliot in Vers 30 von The Waste
Land , nachdem er uns angekündigt hat, daß er uns etwas zeigen wird, was sowohl anders ist als unser Schatten am
Morgen, der uns nachfolgt, wie auch anders als unser
Schatten am Abend, der sich vor uns erhebt (und es liegt
bei uns zu entscheiden, ob die Verse wörtlich oder
metaphorisch zu nehmen sind): I will show you fear in a
handful of dust – »ich werde euch die Angst in einer
Handvoll Staub zeigen«? In diesem Fall übertrifft das
Symbol sogar noch die Kraft der Metapher. Gewiß könnte
diese Handvoll Staub eine Metapher für vieles sein, und
traditionell wäre sie, gleichsam per Katachrese, eine für
den Mißerfolg, das Scheitern. Wie oft im Leben haben wir
für unsere Mühen nichts als eine Handvoll Staub
6 Eugenio Montale, Vecchi versi , dt. in Gedichte 1920 – 1954 , übertragen von Hanno Helbling, Hanser 1987, S. 198 ff. (A. d. Ü.).
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bekommen, so daß wir den Ausdruck zu einer stehenden
Redewendung gemacht haben. Aber ist es diese Angst, die
uns Eliot zeigen will und die er heraufbeschwört?
Mißerfolg enttäuscht, schmerzt, entmutigt, aber er macht
nicht Angst, denn er enthält nichts Unerwartetes mehr.
Diese handfull of dust steht hier für etwas anderes, vielleicht ist sie schon seit dem Urknall da, und wenn sie
ein Scheitern meint, dann das des Demiurgen. Oder nein,
sie ist die Epiphanie eines Universums ohne Urknall und
ohne Demiurg, der Beweis für unser »Sein zum Tode«
(aber The Waste Land ist fünf Jahre vor Sein und Zeit erschienen).
Epiphanie, sagte ich. Im Grunde ist Joyces Begriff der
Epiphanie die weltlichere Version des symbolischen
Modus. Etwas tritt plötzlich in Erscheinung, und wir
wissen, daß es eine Erscheinung ist, sonst wäre es nicht so
inkongruent, so inhomogen zu seiner Umgebung, und
doch wissen wir nicht, was es enthüllt. Das Symbol ist
eine Epiphanie mit Magierkönigen, von denen wir nicht
wissen, woher sie kommen, wohin sie gehen und wen
anzubeten sie gekommen sind. Die Krippe in Bethlehem
ist leer, oder sie ist schon besetzt von, was weiß ich, einem
rätselhaften Objekt, einem Dolch, einer Black Box, einer
Glasglocke voller Schneeflocken, die auf die
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