Die Bücher und das Paradies
das werden wir uns bis ans Ende unserer Tage fragen,
denn jedwede Allegorisierung des Symbols würde uns
bloß zu Selbstverständlichkeiten führen, würde uns immer
nur sagen, was wir schon vorher wollten.
Damit komme ich zum Schlußteil meines Beitrags. Es
scheint unseren eingefahrensten Vorstellungen zu wider-
sprechen, aber in allen Jahrhunderten, in denen man vom
Symbol sprach, hat man nur wenig vom symbolischen
Modus gewußt. Nach ihm suchten vielleicht die Befrager
des Orakels in Delphi, das bekanntlich nichts sagte und
nichts verbarg, sondern sich in Andeutungen erging.
Danach aber müssen wir, um einen Symbolbegriff zu
finden, wie wir ihn durch die Jahrtausende verfolgt haben,
bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehen, um
die herum sich der symbolische Modus als bewußte
Strategie durchsetzt. Vielleicht hat überhaupt erst die
Neuzeit den Begriff der Poesie erfunden, bedenkt man,
daß die antiken Leser ihren Homer wie eine Enzyklopädie
des universalen Wissens lasen und die mittelalterlichen
Vergil so benutzten, wie später Nostradamus benutzt
werden sollte. Wir Heutigen sind es, die von der Dichtung
– und nicht selten auch von der erzählenden Literatur –
nicht nur Ausdruck von Gefühlen verlangen, beziehungs-
weise Beschreibung von Handlungen oder Moral, sondern
auch symbolische Blitzschläge, blassen Ersatz für eine
Wahrheit, die wir von den Religionen nicht mehr
verlangen.
199
Kann das genügen? Nur für den, der ein kühles
Bewußtsein von der Bedeutungslosigkeit des Universums
hat, gepaart mit einem glühenden Willen zur Erlösung
durch die Frage, nicht durch gefügiges Akzeptieren der
Antwort.
Ist dies die Stimmungslage, die unsere Zeit kenn-
zeichnet? Nein, und gestatten Sie mir diese moralistische
Konklusion. Von der Erbschaft des symbolischen Modus
hat unsere Zeit nur zwei Verfälschungen angenommen.
Die erste ist eine gebildete und kultivierte und lautet, daß
sich überall ein tieferer Sinn verbirgt, daß jeder Diskurs den symbolischen Modus in Szene setzt, daß in allem
Gesagten das Nichtgesagte mitschwingt, auch wenn
jemand nur sagt, daß es heute regnet. Dies ist die
zeitgenössische Häresie der Dekonstruktion, die so tut, als
ließe uns eine Gottheit oder ein bösartiges Unbewußtes
immer und ausschließlich in einer zweiten Bedeutung
reden, als wäre alles, was wir sagen, unwesentlich, weil
die Wesentlichkeit unserer Rede woanders steckt, im
Symbolischen, das wir oft übersehen. So ist das Juwel des
Symbols, das im Dunkeln aufleuchten und jäh blenden
sollte (aber möglichst nur selten) zu einer Kette aus
Neonlichtern geworden, die alle Diskurse durchzieht.
Zuviel des Guten.
Als Interpretationsstrategie ist das nicht übel, wenn
interpretieren heißt, Titel für akademische Stellen-
ausschreibungen akkumulieren. Doch wenn jeder immer
das sagt, was er eigentlich nicht sagen wollte, dann sagen
alle immer dasselbe. Aus ist es mit dem symbolischen
Modus als höchster Strategie der Sprache, wir reden
indirekt, schräg und schief, immer in Symbolen, weil
unsere Sprache krank ist. Wo es keine erkennbare Regel
gibt, gibt es auch keine Normabweichung. Wir reden alle
in Poesie, wir alle »enthüllen« etwas, auch wenn wir nur
200
sagen, daß nächsten Dienstag die Versicherungsrate fällig
ist. Was für eine Strafe, eine so ausweglos orphische Welt,
in der kein Raum für die Sprache des Pförtners bleibt! Wo
der Pförtner nicht sprechen kann, schweigt auch der
Dichter.
Die zweite Häresie ist die der »Informationswelt«, die,
gewohnt an Verschwörungen, an verschlüsselte Sätze, an
halbe Wörter, versprochene und aufgekündigte Allianzen,
herumgetratschte und dementierte Trennungen, in jedem
Ereignis und jedem Ausdruck eine geheime Botschaft
sucht. Verdammnis des zeitgenössischen Schriftstellers,
über die ich hier nicht sprechen möchte, um keine
persönlichen Erfahrungen auszubreiten, aber deren Modell
ich anhand der Begegnung eines Schriftstellers früherer
Zeiten mit Kritikern oder Journalisten von heute
skizzieren möchte.
Nehmen wir an, der Schriftsteller sei Leopardi, und
erfinden wir für ihn einen Dialog zwischen Dichter und
Zeitungsseitenvollschreiber …
»Signor Leopardi, es ist stimulierend und voller Widerhaken,
daß Sie für einen kurzen Moment (nicht mehr als fünfzehn Verse) einen Diskurs über einen Hügel geführt haben, auf dem Sie über das Unendliche reflektieren. Warum ist dieser
Weitere Kostenlose Bücher