Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
das werden wir uns bis ans Ende unserer Tage fragen,
    denn jedwede Allegorisierung des Symbols würde uns
    bloß zu Selbstverständlichkeiten führen, würde uns immer
    nur sagen, was wir schon vorher wollten.
    Damit komme ich zum Schlußteil meines Beitrags. Es
    scheint unseren eingefahrensten Vorstellungen zu wider-
    sprechen, aber in allen Jahrhunderten, in denen man vom
    Symbol sprach, hat man nur wenig vom symbolischen
    Modus gewußt. Nach ihm suchten vielleicht die Befrager
    des Orakels in Delphi, das bekanntlich nichts sagte und
    nichts verbarg, sondern sich in Andeutungen erging.
    Danach aber müssen wir, um einen Symbolbegriff zu
    finden, wie wir ihn durch die Jahrtausende verfolgt haben,
    bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehen, um
    die herum sich der symbolische Modus als bewußte
    Strategie durchsetzt. Vielleicht hat überhaupt erst die
    Neuzeit den Begriff der Poesie erfunden, bedenkt man,
    daß die antiken Leser ihren Homer wie eine Enzyklopädie
    des universalen Wissens lasen und die mittelalterlichen
    Vergil so benutzten, wie später Nostradamus benutzt
    werden sollte. Wir Heutigen sind es, die von der Dichtung
    – und nicht selten auch von der erzählenden Literatur –
    nicht nur Ausdruck von Gefühlen verlangen, beziehungs-
    weise Beschreibung von Handlungen oder Moral, sondern
    auch symbolische Blitzschläge, blassen Ersatz für eine
    Wahrheit, die wir von den Religionen nicht mehr
    verlangen.
    199
    Kann das genügen? Nur für den, der ein kühles
    Bewußtsein von der Bedeutungslosigkeit des Universums
    hat, gepaart mit einem glühenden Willen zur Erlösung
    durch die Frage, nicht durch gefügiges Akzeptieren der
    Antwort.
    Ist dies die Stimmungslage, die unsere Zeit kenn-
    zeichnet? Nein, und gestatten Sie mir diese moralistische
    Konklusion. Von der Erbschaft des symbolischen Modus
    hat unsere Zeit nur zwei Verfälschungen angenommen.
    Die erste ist eine gebildete und kultivierte und lautet, daß
    sich überall ein tieferer Sinn verbirgt, daß jeder Diskurs den symbolischen Modus in Szene setzt, daß in allem
    Gesagten das Nichtgesagte mitschwingt, auch wenn
    jemand nur sagt, daß es heute regnet. Dies ist die
    zeitgenössische Häresie der Dekonstruktion, die so tut, als
    ließe uns eine Gottheit oder ein bösartiges Unbewußtes
    immer und ausschließlich in einer zweiten Bedeutung
    reden, als wäre alles, was wir sagen, unwesentlich, weil
    die Wesentlichkeit unserer Rede woanders steckt, im
    Symbolischen, das wir oft übersehen. So ist das Juwel des
    Symbols, das im Dunkeln aufleuchten und jäh blenden
    sollte (aber möglichst nur selten) zu einer Kette aus
    Neonlichtern geworden, die alle Diskurse durchzieht.
    Zuviel des Guten.
    Als Interpretationsstrategie ist das nicht übel, wenn
    interpretieren heißt, Titel für akademische Stellen-
    ausschreibungen akkumulieren. Doch wenn jeder immer
    das sagt, was er eigentlich nicht sagen wollte, dann sagen
    alle immer dasselbe. Aus ist es mit dem symbolischen
    Modus als höchster Strategie der Sprache, wir reden
    indirekt, schräg und schief, immer in Symbolen, weil
    unsere Sprache krank ist. Wo es keine erkennbare Regel
    gibt, gibt es auch keine Normabweichung. Wir reden alle
    in Poesie, wir alle »enthüllen« etwas, auch wenn wir nur
    200
    sagen, daß nächsten Dienstag die Versicherungsrate fällig
    ist. Was für eine Strafe, eine so ausweglos orphische Welt,
    in der kein Raum für die Sprache des Pförtners bleibt! Wo
    der Pförtner nicht sprechen kann, schweigt auch der
    Dichter.
    Die zweite Häresie ist die der »Informationswelt«, die,
    gewohnt an Verschwörungen, an verschlüsselte Sätze, an
    halbe Wörter, versprochene und aufgekündigte Allianzen,
    herumgetratschte und dementierte Trennungen, in jedem
    Ereignis und jedem Ausdruck eine geheime Botschaft
    sucht. Verdammnis des zeitgenössischen Schriftstellers,
    über die ich hier nicht sprechen möchte, um keine
    persönlichen Erfahrungen auszubreiten, aber deren Modell
    ich anhand der Begegnung eines Schriftstellers früherer
    Zeiten mit Kritikern oder Journalisten von heute
    skizzieren möchte.
    Nehmen wir an, der Schriftsteller sei Leopardi, und
    erfinden wir für ihn einen Dialog zwischen Dichter und
    Zeitungsseitenvollschreiber …
    »Signor Leopardi, es ist stimulierend und voller Widerhaken,
    daß Sie für einen kurzen Moment (nicht mehr als fünfzehn Verse) einen Diskurs über einen Hügel geführt haben, auf dem Sie über das Unendliche reflektieren. Warum ist dieser

Weitere Kostenlose Bücher