Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
Madonna
    von Oropa fallen, einem Ausriß aus einem Eisenbahn-
    fahrplan. Und doch leuchtet sie, zumindest für uns, wenn
    wir die Einladung des Unwesentlichen annehmen.
    Noch einmal The Waste Land : Warum heißt es an einem
    bestimmten Punkt (Vers 69): »Da sah ich einen, den ich
    kannte, und hielt ihn an, indem ich ›Stetson‹ rief«? Warum
    gerade Stetson? Und warum ist Eliot mit diesem Stetson in
    Mylae gewesen? Warum hat Stetson im Vorjahr eine
    Leiche im Garten vergraben, die nun zu sprießen beginnt?
    Warum soll er den Hund fernhalten?
    196
    Roberto Cotroneo hat in seinem kürzlich erschienenen
    Buch Se una mattina d’estate un bambino (Milano,
    Frassinelli, I994)7 eine Deutung versucht: Ja, freilich, wer
    trug einen Stetson-Hut, wenn nicht Ezra Pound? Und
    warum nicht Mylae, wenn Rom doch nach dieser ersten
    gewonnenen Seeschlacht den Kult der phrygischen Göttin
    bei sich eingeführt hatte, um die Macht der besiegten
    Karthager zu exorzieren, so daß mit diesem Datum die
    Vermischung von Abend- und Morgenland begann?
    Sicher ist diese Lesart erlaubt, und Eliot selbst hat sie
    autorisiert, indem er zu Beginn seiner Anmerkungen auf
    Miss Westons Buch verweist. Aber begnügt er sich damit?
    Keineswegs. Stetson beunruhigt uns weiter durch seine
    unerwartete Erscheinung, und im übrigen hat Eliot wenige
    Verse zuvor das Signal für den symbolischen Modus
    gegeben, den er gerade mit vollen Händen verteilt. Soeben
    hat er den Umstand erwähnt, daß die Glocken von Saint
    Mary Woolnoth die neunte Stunde schlugen with a dead
    sound on the final stroke of nine , »mit einem dumpfen Ton auf dem letzten Schlag der Neun«, und dazu macht er eine
    der wenigen und hermetischen Anmerkungen seines
    Gedichts. Im Kommentar zu Vers 68 schreibt er: »Ein
    Phänomen, das ich oft bemerkt habe.«
    Eine sublime und scheinbar ganz unwichtige Präzi-
    sierung. Warum muß Eliot von allen Ereignissen jenes
    London, jener unwirklichen Stadt, in der so viele
    Menschen über die Brücke strömen, daß er nie gedacht
    hätte, daß der Tod so viele hätt’ hingemacht, und die alle
    beim Gehen auf den Boden blicken – warum muß er uns

    7 Dt.
    Wenn ein Kind an einem Sommermorgen: Brief an meinen
    Sohn über die Liebe zu Büchern , übers. von BK, Düsseldorf, Marion von Schröder, 1996; erweiterte Neuausgabe Frankfurt,
    Insel, 2002, S. 131 ff. (A. d. Ü.).
    197
    da sagen, daß er gerade dieses Phänomen oft bemerkt hat,
    als ob es ein Noumenon wäre?
    Und wir, was sollen wir Leser tun? Eliot sagt es uns
    wenig später, indem er eine Beschimpfung abwandelt, die
    am Ursprung der Poetik des Symbolismus steht: You,
    hypocrite lecteur, mon semblable, mon frère! Indem er die Anrede aus dem Französischen ins Englische übersetzt,
    hat er den Leserappell aus seinem Kontext gelöst. Jetzt
    bedeutet er etwas anderes. Jetzt sind wir es, die sich fragen
    müssen, warum der Name Stetson so überraschend auf-
    getaucht ist, ob es sich wirklich nur um einen Hut handelt
    und warum wir heuchlerisch schuld sein sollen an seinem
    Erscheinen.
    Wohlgemerkt, noch einmal: an sich ist der Name Stetson
    kein Symbol. Er wird es erst im Kontext. Er ist eine
    Fokussierung ohne besonderen Grund.
    Wir dürfen auch nicht meinen, Inkongruenz bedeute
    einen Mangel an innerer Kohärenz oder Grundlosigkeit
    heiße Leichtigkeit. Bisweilen stellt der symbolische
    Modus eine eherne, wenn auch paranoische Logik zur
    Schau, und das Symbol ist hart, geometrisch und schwer
    wie die galaktische Stele, die am Ende von 2001 : Odyssee im Weltraum erscheint.
    Ebensowenig dürfen wir glauben, das Symbol müsse
    stets etwas Kurzes sein, ein bloß angedeutetes Bild, das im
    Text nur en passant erscheint. Während für Mallarmé das direkte Benennen eines Objekts hieß, drei Viertel des
    poetischen Genusses zu unterdrücken (der für ihn aus dem
    Glück des langsamen Erratens bestand – le suggérer, voilà
    le rêve! ), wird in Kafkas Strafkolonie nichts suggeriert, sondern alles bis ins kleinste Detail beschrieben. Fast wie
    eine ingenieurwissenschaftliche Abhandlung, dazu eine
    juristische Erörterung von geradezu talmudischem Geist,
    konstruiert diese Erzählung ihre komplizierte Folter-198
    maschine, und es ist die Beschreibung in ihrer Gesamtheit,
    über Seiten und Seiten, die uns die Frage nach dem
    Warum dieser Konstruktion aufzwingt. Nicht warum es sie
    gibt – denn es gibt sie nun einmal, und damit basta –,
    sondern was der Sinn dieses Theaters der Grausamkeit ist.
    Und

Weitere Kostenlose Bücher