Die Bücher und das Paradies
Madonna
von Oropa fallen, einem Ausriß aus einem Eisenbahn-
fahrplan. Und doch leuchtet sie, zumindest für uns, wenn
wir die Einladung des Unwesentlichen annehmen.
Noch einmal The Waste Land : Warum heißt es an einem
bestimmten Punkt (Vers 69): »Da sah ich einen, den ich
kannte, und hielt ihn an, indem ich ›Stetson‹ rief«? Warum
gerade Stetson? Und warum ist Eliot mit diesem Stetson in
Mylae gewesen? Warum hat Stetson im Vorjahr eine
Leiche im Garten vergraben, die nun zu sprießen beginnt?
Warum soll er den Hund fernhalten?
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Roberto Cotroneo hat in seinem kürzlich erschienenen
Buch Se una mattina d’estate un bambino (Milano,
Frassinelli, I994)7 eine Deutung versucht: Ja, freilich, wer
trug einen Stetson-Hut, wenn nicht Ezra Pound? Und
warum nicht Mylae, wenn Rom doch nach dieser ersten
gewonnenen Seeschlacht den Kult der phrygischen Göttin
bei sich eingeführt hatte, um die Macht der besiegten
Karthager zu exorzieren, so daß mit diesem Datum die
Vermischung von Abend- und Morgenland begann?
Sicher ist diese Lesart erlaubt, und Eliot selbst hat sie
autorisiert, indem er zu Beginn seiner Anmerkungen auf
Miss Westons Buch verweist. Aber begnügt er sich damit?
Keineswegs. Stetson beunruhigt uns weiter durch seine
unerwartete Erscheinung, und im übrigen hat Eliot wenige
Verse zuvor das Signal für den symbolischen Modus
gegeben, den er gerade mit vollen Händen verteilt. Soeben
hat er den Umstand erwähnt, daß die Glocken von Saint
Mary Woolnoth die neunte Stunde schlugen with a dead
sound on the final stroke of nine , »mit einem dumpfen Ton auf dem letzten Schlag der Neun«, und dazu macht er eine
der wenigen und hermetischen Anmerkungen seines
Gedichts. Im Kommentar zu Vers 68 schreibt er: »Ein
Phänomen, das ich oft bemerkt habe.«
Eine sublime und scheinbar ganz unwichtige Präzi-
sierung. Warum muß Eliot von allen Ereignissen jenes
London, jener unwirklichen Stadt, in der so viele
Menschen über die Brücke strömen, daß er nie gedacht
hätte, daß der Tod so viele hätt’ hingemacht, und die alle
beim Gehen auf den Boden blicken – warum muß er uns
7 Dt.
Wenn ein Kind an einem Sommermorgen: Brief an meinen
Sohn über die Liebe zu Büchern , übers. von BK, Düsseldorf, Marion von Schröder, 1996; erweiterte Neuausgabe Frankfurt,
Insel, 2002, S. 131 ff. (A. d. Ü.).
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da sagen, daß er gerade dieses Phänomen oft bemerkt hat,
als ob es ein Noumenon wäre?
Und wir, was sollen wir Leser tun? Eliot sagt es uns
wenig später, indem er eine Beschimpfung abwandelt, die
am Ursprung der Poetik des Symbolismus steht: You,
hypocrite lecteur, mon semblable, mon frère! Indem er die Anrede aus dem Französischen ins Englische übersetzt,
hat er den Leserappell aus seinem Kontext gelöst. Jetzt
bedeutet er etwas anderes. Jetzt sind wir es, die sich fragen
müssen, warum der Name Stetson so überraschend auf-
getaucht ist, ob es sich wirklich nur um einen Hut handelt
und warum wir heuchlerisch schuld sein sollen an seinem
Erscheinen.
Wohlgemerkt, noch einmal: an sich ist der Name Stetson
kein Symbol. Er wird es erst im Kontext. Er ist eine
Fokussierung ohne besonderen Grund.
Wir dürfen auch nicht meinen, Inkongruenz bedeute
einen Mangel an innerer Kohärenz oder Grundlosigkeit
heiße Leichtigkeit. Bisweilen stellt der symbolische
Modus eine eherne, wenn auch paranoische Logik zur
Schau, und das Symbol ist hart, geometrisch und schwer
wie die galaktische Stele, die am Ende von 2001 : Odyssee im Weltraum erscheint.
Ebensowenig dürfen wir glauben, das Symbol müsse
stets etwas Kurzes sein, ein bloß angedeutetes Bild, das im
Text nur en passant erscheint. Während für Mallarmé das direkte Benennen eines Objekts hieß, drei Viertel des
poetischen Genusses zu unterdrücken (der für ihn aus dem
Glück des langsamen Erratens bestand – le suggérer, voilà
le rêve! ), wird in Kafkas Strafkolonie nichts suggeriert, sondern alles bis ins kleinste Detail beschrieben. Fast wie
eine ingenieurwissenschaftliche Abhandlung, dazu eine
juristische Erörterung von geradezu talmudischem Geist,
konstruiert diese Erzählung ihre komplizierte Folter-198
maschine, und es ist die Beschreibung in ihrer Gesamtheit,
über Seiten und Seiten, die uns die Frage nach dem
Warum dieser Konstruktion aufzwingt. Nicht warum es sie
gibt – denn es gibt sie nun einmal, und damit basta –,
sondern was der Sinn dieses Theaters der Grausamkeit ist.
Und
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