Die Bücher und das Paradies
verlegen).
Wir kennen ihn als Pseudo-Longinos, erstes Jahrhundert
nach Christus, und wir sind geneigt, ihm die Erfindung
jenes Begriffs zuzuschreiben, der seit jeher das Banner
derer war, die behaupten, über Kunst denke man nicht
rational nach, sondern man empfinde unsagbare Gefühle
und registriere die daraus folgende Ekstase, und die könne
man höchstens mit anderen Worten erzählen, aber niemals
erklären.
Ich meine den Begriff des Erhabenen , das in manchen
Epochen der Kritik- und Ästhetikgeschichte mit der
höchsten Ausformung der Kunst gleichgesetzt worden ist.
Und tatsächlich präzisiert Longinos, oder wer immer sich
hinter ihm verbirgt, gleich zu Beginn seiner Schrift: »Das
Erhabene führt die Zuhörer nicht zur Überzeugung,
sondern reißt sie fort zur Ekstase.« Wenn das Erhabene im
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rechten Moment aus dem Akt des Lesens (oder des
Zuhörens) hervorbricht, »zersprengt es alles wie ein
Blitz«.
Nur fragt sich Longinos an dieser Stelle (leider der
einzigen, die in den Jahrhunderten Schule gemacht hat,
und wir sind erst am Ende des ersten Absatzes), ob das
Erhabene auch gedacht werden könne, und vermerkt
sofort, daß viele seiner Zeitgenossen meinten, das
Erhabene sei eine angeborene Fähigkeit, eine Gabe der
Natur. Aber Longinos glaubt, daß sich die Gaben der
Natur nur bewahren und fruchtbar machen lassen, wenn
man mit Methode vorgeht, das heißt mit Kunst, und so
macht er sich an sein Unternehmen, das, wie viele
vergessen oder nie gewußt haben, eine Definition der
semiotischen Strategien ist, die im Leser oder Zuhörer das
Gefühl des Erhabenen wecken.
Und kein russischer Formalist, kein Prager oder
französischer Strukturalist, kein belgischer Rhetoriker
oder deutscher Stilkritiker hat soviel Energie aufgewandt
(sei’s auch nur auf wenigen Seiten), um die Strategien des
Erhabenen aufzudecken und sie am Werk zu zeigen. Am
Werk, soll heißen in ihrer Ausprägung und danach in ihrer
Verteilung über die lineare Oberfläche des Textes, wo sie
vor den Augen des Lesers die verborgenen Stilmanöver
aufscheinen lassen.
So zählt Longinos, sei er auch pseudo, die fünf Quellen
des Erhabenen auf, als da sind die Fähigkeit, edle
Gedanken zu fassen , die Fähigkeit, ein starkes,
begeistertes Pathos zu manifestieren und zu wecken , die Kunst, die passenden rhetorischen Figuren zu bilden , die Erfindungskraft beim Erzeugen einer edlen Ausdrucksweise durch die Wahl der Worte und den korrekten
Gehrauch der Figuren und schließlich die allgemeine Anlage des Textes , aus der ein würdevoll-hoher Stil
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resultiert. Denn vor allem weiß Longinos im Gegensatz zu
jenen, die zu seiner Zeit die semiotische Leidenschaft des
Erhabenen mit der physischen Erfahrung des Orgasmus
gleichsetzten: »Es gibt Arten von Pathos, die durchaus
nicht erhaben, sondern niedrig sind, wie das Jammern, die
Verzagtheit und die Ängste, und umgekehrt gibt es viele
Erscheinungsformen des Erhabenen ohne Pathos.«
Unter diesen Prämissen begibt sich Longinos auf seine
Suche nach der erhabenen Photosynthese, die das Gefühl
des Erhabenen produziert: Er zeigt, wie Homer, um dem
Göttlichen Größe zu verleihen, durch eine wunderbare
Hypotypose das Gefühl einer kosmischen Ferne erzeugt
und wie er dieses Gefühl der kosmischen Ferne durch eine
in die Länge gezogene Beschreibung physischer Distanzen
wiedergibt; er beobachtet, wie für Sappho das innere
Pathos nur dargestellt werden kann, indem sie eine
Schlacht der Augen, der Ohren, der Zunge und der Haut in
Szene setzt; er konfrontiert einen Schiffbruch bei Homer
mit einem bei Arat von Soloi, wobei im zweiten Fall die
Nähe des Todes durch die bloße Wahl einer Metapher
(»Nur eine dünne Planke trennt sie vom Hades«)
gleichsam anästhesiert wird, während bei Homer der
Hades ungenannt und dadurch um so drohender bleibt. Er
studiert die Strategien der Erweiterung und der
Hypotypose, er untersucht das Theater der rhetorischen
Figuren, der Asyndeta, der Sorites, der Hyperbata, und wie
Konjunktionen die Rede ermatten lassen und Polyptota sie
stärken und Tempuswechsel sie dramatisieren.
Man denke nun aber nicht nur an eine Reihe von
Stilanalysen. Longinos beschäftigt sich auch mit der
Gegenüberstellung und der Vertauschung von Personen,
mit dem Übergang von einer Person zur anderen, mit der
Art, wie der Autor sich an den Leser wendet oder wie er
sich mit einer Person identifiziert, und mit der
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