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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Grammatik
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    dieser narrativen Verfahren. Er vernachlässigt weder
    Umschreibungen noch sprachliche Idiotismen, noch
    Metaphern, Hyperbeln und Analogien. Es ist eine ganze
    rhetorisch-stilistische Maschinerie mit Erzählstrukturen,
    Stimmen, Blickwinkeln und Tempora, die er bei der
    Arbeit besichtigt, indem er Texte analysiert und
    vergleicht, um die Strategie des Erhabenen freizulegen
    und sie unserer Bewunderung zu überlassen.
    Man könnte meinen, nur simple Gemüter fallen in
    Ekstase, während Longinos die Chemie ihrer Leiden-
    schaften kennt und gerade deswegen um so mehr genießt.
    In Paragraph 39 nimmt er sich vor, die »kompositorische
    Harmonie im Gefüge der Wörter« zu behandeln, eine
    Harmonie, die nicht bloß natürliche Anlage zur
    Gewinnung von Überzeugung und Vergnügen ist, sondern
    auch ein »wunderbares Instrument der großen, von
    Leidenschaft erfüllten Rede«. Longinos weiß (aufgrund
    alter pythagoreischer Tradition), daß die Flöte bei den
    Zuhörern Leidenschaften erzeugt und sie außer sich
    geraten läßt wie lauter rauschhaft verzückte Tänzer, auch
    wenn sie ganz unmusikalisch sind, er weiß, daß die
    Klänge der Kithara, die für sich allein bedeutungsleer sind,
    eine betörende Wirkung ausüben. Aber er weiß auch, daß
    die Flöte ihre Wirkung durch den Rhythmus erzielt, mit
    dem sie »den Hörer zwingt, in ihrem Takt zu schreiten«,
    und daß die Kithara »durch den Wechsel der Töne und
    ihren harmonischen Zusammenklang« auf die Seele
    einwirkt. Was er erklären will, ist nicht die Wirkung, die
    für jeden offenkundig ist, sondern die Grammatik ihrer
    Erzeugung.
    So analysiert er, als er zur verbalen Harmonie übergeht,
    »die mit dem Ohr auch die Seele einfängt«, einen Satz des
    Redners Demosthenes, der ihm nicht nur bewundernswert,
    sondern erhaben vorkommt, nämlich: »Dieses Dekret hat
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    die Gefahr, die über der Stadt hing, weiterziehen lassen
    wie eine Wolke.« Und er schreibt:
    Hier ist der Gedanke nicht weniger wichtig als die Harmonie.
    Der ganze Satz ist nämlich in daktylischen Rhythmen ausgedrückt, den edelsten und am besten geeigneten, Größe zu er zeuge n, weshalb sie charakteristisch für das heroische Versmaß sind, das schönste, das wir kennen. Versuche einmal, die Wörter nach
    Belieben umzustellen: »Dieses Dekret hat wie eine Wolke die
    Gefahr weiterziehen lassen, die über der Stadt hing«, oder
    versuche auch nur eine einzige Silbe zu unterdrücken, indem du etwa sagst, »… weiterziehen lassen wie Gewölk«, und du wirst
    begreifen, wie sehr die Harmonie mit dem Erhabenen
    zusammenklingt. Tatsächlich hat die Wortgruppe »wie eine
    Wolke« (ωoπερ vέφoς) einen langen ersten Fuß, der sich in vier Takten bemißt; wenn du jedoch eine Silbe unterdrückst, so daß
    »wie Gewölk« (ωo vέφoς) herauskommt, verstümmelst du durch
    die Verkürzung sofort die Größe. Fügst du umgekehrt eine Silbe hinzu und sagst:
    »… weiterziehen lassen gleichwie eine Wolke«, dann sagst du
    zwar dasselbe, aber es hat nicht dieselbe rhythmische Kadenz,
    denn eine Verlängerung der letzten Takte verlangsamt und zerstört das Hervorbrechen des Erhabenen.3
    Auch ohne Nachprüfung am griechischen Original ist
    der Sinn dieser Analyse klar. Longinus betreibt
    Textsemiotik. Und er betreibt Textkritik – jedenfalls nach
    den Maßstäben seiner Zeit – und erklärt uns, warum wir
    etwas erhaben finden und wie wenig man nur am
    Textkörper zu verändern braucht, um die ganze Wirkung
    zu zerstören. Mithin wußte man schon seit den fernsten
    Ursprüngen (denn wenn wir noch weiter zurückgehen, zur
    Poetik des Aristoteles, finden wir nicht weniger), wie man 3 Peri hypsous , 39, 4; vgl. die Ausgabe von Reinhard Brandt: Pseudo-Longinus, Über das Erhabene , griechisch und deutsch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1966, S. 105 ff.
    (A. d. Ü.).
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    einen Text liest und daß man keine Angst zu haben
    braucht vor einem dose reading und vor einer manchmal terroristischen Metasprache (denn für seine Epoche war
    die des Longinos nicht weniger terroristisch als die, die
    heutzutage so viele unserer Zeitgenossen erschreckt).
    Mithin geht es darum, den Ursprüngen treu zu bleiben,
    sowohl denen des Stilbegriffs als auch denen des Begriffs
    einer wahren Kritik und einer Analyse der Textstrategien.
    Was die beste Stilsemiotik getan hat und tut, ist das, was
    bereits unsere großen Vorfahren taten. Unsere einzige
    Pflicht besteht darin, durch ernsthafte und

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