Die Buecher und das Paradies
zufälligen Entstehung des Kosmos benutzt worden ist. Das Thema ist sogar noch viel älter, wir könnten es bis zu Demokrit und zu Epikurs Diskussionen über das clinamen zurückführen.
Heute morgen ist unter Verweis auf Mauthner die Frage angesprochen worden, ob die real characters von Wilkins so etwas wie die Schriftzeichen einer uralten chinesischen Sprache seien (daher dann Borges’ Idee der chinesischen Enzyklopädie). Aber daß diese »realen Buchstaben« den chinesischen Ideogrammen gleichen müßten, hat schon Francis Bacon gesagt, und damit hat die ganze Suche nach der vollkommenen Sprache im 17. Jahrhundert begonnen. Gegen diese Idee hat Descartes gewettert. Nun kannte Borges zweifellos, ob durch Mauthner oder direkt, den berühmten Brief von Descartes an Mersenne, aber kannte er auch die Theorie von Francis Bacon über die real characters und die chinesischen Ideogramme? Oder hat er das Thema bei Athanasius Kircher gefunden? Oder bei noch einem anderen Autor? Ich denke, es lohnt sich, die Drehscheiben der Intertextualität mit voller Kraft rotieren zu lassen, um zu sehen, auf welch unerwartete Weisen sich das Spiel der Einflüsse artikuliert. Manchmal ist der tiefste Einfluß der, den man zuletzt entdeckt, und nicht der, den man gleich erkennt.
Ich würde gern noch einige Aspekte meiner Arbeit hervorheben, in denen ich nicht als Borgesianer bezeichnet werden kann, aber da die Zeit schon fortgeschritten ist, will ich nur zwei erwähnen.
Zunächst die Frage der Quantität. Natürlich kann man ein kurzes Gedicht wie Leopardis Infinito schreiben oder einen historischen Schmöker wie Cantus Margherita Pusteria, was ein ebenso langes wie langweiliges Buch ist; aber lang ist auch und dabei erhaben die Divina Commedia, während ein kurzes Sonett von Burchiello bloß amüsant ist. Der Gegensatz Minimalismus/Maximalismus ist kein Wertgegensatz. Er ist ein Gegensatz in der Gattung oder im Verfahren. Und in diesem Sinne war Borges zweifellos ein Minimalist, während ich ein Maximalist bin. Borges steht im Zeichen der Schnelligkeit und kommt rasch ans Ende seiner Geschichten, und so konnte und mußte er Calvino gefallen. Ich bin eher ein Autor des Verweilens (wie ich es in meinen HarvardVorlesungen ausgedrückt habe 10 ).
Vielleicht ebenfalls aus Gründen der Quantität kann man meine Schreibweise, glaube ich, als neobarock definieren. Borges ist ein Autor, der zwar mental vom Barock und von der barocken Art des Umgangs mit Ideen fasziniert war, doch seine Schreibweise ist nicht barock. Seine Schreibweise ist glasklare Neoklassik.
Aber ich möchte lieber noch ein paar Grundideen von Borges herausstellen, die sich nicht auf ein simples Zitat zurückführen lassen und die vielleicht seine tiefste Erbschaft darstellen, weshalb sie nicht nur mich, sondern auch viele andere beeinflußt haben.
Jemand hat in diesen Tagen vom Erzählen als Erkenntnismodell gesprochen. Ohne Zweifel hat Borges’ gesamtes Parabelschaffen uns alle insofern beeinflußt, als es uns gezeigt hat, wie man philosophische und metaphysische Aussagen machen kann, indem man Gleichnisse erzählt. Auch hier haben wir natürlich ein Thema, das bei Platon und - wenn Sie erlauben - bei Jesus beginnt und bei Juri M. Lotman endet (Textmodalität gegen grammatikalische Modalität), bei der Psychologie eines Jerome Bruner (die narrativen Modelle als Wahrnehmungshilfen) und bei den frames der künstlichen Intelligenz. Aber es scheint mir unbestreitbar, daß Borges’ Anregung in diesem Sinne grundlegend war.
Fast ebenso wichtig ist aber auch sein Appell (und deswegen habe ich von Borges als einem deliranten Archivar gesprochen), die gesamte Enzyklopädie im Licht des Verdachts und der kontrafaktischen Überprüfung zu lesen, um das enthüllende Wort an den Rändern zu finden, die Situation auf den Kopf zu stellen, die Enzyklopädie spielerisch gegen sich selbst zu kehren.
Es ist sehr schwierig, sich der Angst vor dem Einfluß zu entziehen, so wie es für Borges sehr schwierig war, ein
Vorläufer Kafkas zu sein. 11 Zu sagen, daß es bei Borges keine Idee gibt, die nicht schon vorher da war, heißt soviel wie zu sagen, daß es bei Beethoven keine einzige Note gibt, die nicht schon vorher gespielt worden ist. Was bei Borges grundlegend bleibt, ist seine Fähigkeit, die unterschiedlichsten Elemente der Enzyklopädie zu benutzen, um daraus eine Musik aus Ideen zu machen. Sicher habe ich versucht, ihm darin nachzueifern (auch wenn ich den Gedanken einer
Weitere Kostenlose Bücher