Die Buecher und das Paradies
alle stets als ein Kunstwerk betrachtet haben. Er nimmt ihn an einer Ecke hoch, dreht ihn um und zeigt uns, daß unter dem Teppich Würmer, Maden und Schaben wimmeln, ein ganzes unbekanntes Untergrundleben. Ein Leben, das noch nie jemand entdeckt hat. Und doch war es die ganze Zeit unter dem Teppich.
So hat Camporesi sein Leben damit verbracht, vergessene Texte zu lesen und wiederzulesen, auch solche, die vor aller Augen lagen, aber noch nie in dieser Weise gelesen worden waren, um uns zu sagen, wie in den vergangenen Jahrhunderten die Welt bewohnt war von Vagabunden, Scharlatanen, Wunderheilern, Dieben, Mördern, gotteserleuchteten Narren, falschen und echten Leprakranken. Er hat die aus ewigem Hunger geborenen Träume vom Schlaraffenland wieder entdeckt, er hat die Riten des Karnevals, des Hexensabbats, der diabolischen Halluzinationen wiedergefunden.
Er hat Texte ans Licht gezogen, die erkennen lassen, daß und inwiefern man in früheren Jahrhunderten andere Vorstellungen vom eigenen Körper hatte, ebenso vom Essen (Camporesi ist Feinschmecker, er begreift, was in fernen Zeiten der Geruch eines Käses, der Geschmack der Milch bedeutete). Er hat die Passagen der religiösen Prediger wiedergelesen, die von der Hölle und ihren Qualen sprachen (was für ihn hieß, den Körper als Ort und
Gelegenheit für Schmerz, Strafe, unendliche Leiden wiederzuentdecken), er hat sich angesehen, wie die Menschen früher aßen, wie sie kochten, wie sie beim Schlucken mit der Zunge schnalzten, wie sie mit Salben und Elixieren ihre sexuellen Fähigkeiten steigerten, wie im
18. Jahrhundert jene exotischen und (damals) erstaunlichen Getränke aufgenommen wurden, die der Kaffee und die Schokolade waren, wie die Arbeit der Bergleute aussah, der Weber, der Barbiere, der Chirurgen, der Ärzte, der Wunderheiler, welches Bild man von den Armen hatte, von den Entrechteten, von den Schurken, den Dieben, den Mördern, den Verzweifelten.
Alles, was Camporesi aufdeckt, hat schon vorher klar und deutlich in Büchern gestanden, die sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt haben. Camporesi versteht es einfach, sie neu zu lesen.
Daher ist er ein Literaturhistoriker, der uns dazu einlädt, in der Literatur die weniger berühmten Texte neu zu entdecken. Er ist ein Ethnologe, aber einer, der die Sitten und Bräuche vergangener Kulturen wiederentdeckt, indem er den Spuren nachgeht, die sie in diversen Texten hinterlassen haben.
Wie Camporesi ist, kann man nicht so leicht sagen. Ich gestehe, wenn ich alle seine Bücher in einem Stück lesen müßte, würde mir übel werden, denn sie sind eine Folge von Entdeckungen über die Art und Weise, wie die Körper geliebt, gevierteilt, ernährt, obduziert, verschlungen, verworfen, gedemütigt werden ... Camporesis Ethnologie ist grausig, erbarmungslos, dokumentiert, wahr. Wenn jemand beschlösse, alle seine Bücher eins nach dem anderen zu lesen, überkäme ihn sehr bald Grauen, Überdruß, Ekel vor dieser Orgie von Fasern, Eingeweiden, Mündern, Beulen, Brechreiz und Freßgier. Camporesis Bücher muß man sich schlückchenweise zu Gemüte führen, nach und nach, damit man der Obsession des triumphierenden Körpers mit all seinem Elend und seinem Glanz entgeht. Sie alle auf einen Rutsch zu lesen wäre, als würde man eine Woche lang nichts als Sahnetorte essen -oder als würde man eine Woche lang in den eigenen Exkrementen schwimmen (was auf dasselbe hinausliefe).
Das vorliegende Buch verfolgt nur einen Aspekt dieser unerträglichen Darstellung des menschlichen Körpers durch die Jahrhunderte: das Blut, seine Mythen, seine Riten und seine Realität. Wenn man es liest, erfaßt einen eine leichte (und nicht nur leichte) Unruhe. Wir Menschen bestehen aus Knochen, Fleisch und Blut. Das Blut ist wichtig. Aber heutzutage studiert man es nur in den Laboratorien, und wir haben keine direkte Beziehung zu unserem Blut. Wenn wir uns mit einem Messer schneiden, stillen wir das Blut mit einem Wattebausch und mit einem Pflaster. Wenn wir von einem Chirurgen operiert werden und das Blut fließt, sind wir narkotisiert. Wenn auf der Straße ein Unfall passiert, rufen wir die Polizei und die Ambulanz, aber wir bemühen uns, nicht das Blut zu sehen. Das war nicht immer so, wie Camporesi uns zeigt, in früheren Jahrhunderten war Blut eine alltägliche Realität, die Leute kannten seinen Geruch und seine Zähflüssigkeit.
Stehen wir dem Blut wirklich so fremd gegenüber? Sind wir wirklich so weit entfernt von jenen
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