Die Bücher von Umber: Drachenspiele
zu der Stelle hin- oder von ihr wegführten.
Als sich die Sonne über den Horizont erhob, wurde es schlagartig hell. Wie auf ein Signal hin breiteten die Vögel ihre Flügel aus und verlieÃen zu Hunderten die Insel. Hap blickte ihnen nach. Er fragte sich, ob er nun das einzige lebende Wesen auf diesem winzigen Felsbrocken mitten im Meer war.
Da hörte er von links ein hohles, kratzendes Geräusch. In einem der Felsen befand sich eine Spalte, in die Meerwasser gespült wurde, das sich in einem Becken sammelte. Das Becken lag im Schatten. Dennoch sah Hap die Spitze einer Schere daraus hervorlugen, und daneben eine zweite. Dann kam der Rest des Wesens zum Vorschein. Es war ein Krebs von beachtlicher GröÃe. Sein Körper war so breit wie ein Schild und seine Augen saÃen auf kurzen Fühlern. Der Panzer war mit versteinerten Krusten übersät, und die vordersten GliedmaÃen endeten in kräftigen Scheren.
Der Krebs blieb am Rand der Felsspalte stehen und begann mit seinem Maul die Scheren zu säubern â einem merkwürdigen, breiten Maul mit Kieferknochen an den Seiten. Während er sich putzte, machte er ein gurgelndes, rasselndes Geräusch und seine drahtigen Fühler vibrierten in der Luft. Die Augen drehten sich an der Spitze ihrer Schäfte und musterten die Umgebung. Ihr Blick schien über Hap hinwegzugehen, doch dann schnappten die Fühler zurück und sahen Hap direkt an.
»Hier ist jemand«, sagte eine Stimme.
Hap war von seiner Begegnung mit WN noch ganz benommen, so dass er einen Augenblick brauchte, bis er begriff, dass der Krebs gesprochen hatte. »Ãh, wie bitte?«, brachte er schlieÃlich hervor.
»Wer ist zurzeit König?«, fragte eine andere Stimme.
Hap starrte den Krebs an. Sein Maul hatte sich jedes Mal bewegt, wenn er eine Stimme gehört hatte. Er war sich sicher, dass er gesprochen hatte. Aber die zweite Stimme hatte anders geklungen â wie die Stimme einer Frau, während die erste die eines Mannes gewesen war.
»Sprichst â sprichst du mit mir?«, fragte Hap.
»Hast du SüÃigkeiten?«, fragte der Krebs zurück. Diesmal war es eine Kinderstimme.
»Ist doch egal«, antwortete eine Stimme, die so klang wie die erste, die Hap gehört hatte. »Wir essen keine SüÃigkeiten.«
»Seid still, alle beide!«, befahl die Frauenstimme. »Ihr weckt noch die anderen auf.«
Hap sah den Krebs hilflos an. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Was ist hier los?, fragte er sich.
Der Krebs bewegte sich seitwärts auf Hap zu und blieb einige Meter entfernt stehen. Hap trat vorsichtig einen Schritt zurück.
»Wie viele Ãberlebende? Wie viele Tote?«, fragte wieder eine andere Stimme in einer fremden Sprache. Hap verstand sie trotzdem â denn aus Gründen, die niemand kannte, war er in der Lage, jede Sprache zu verstehen, der er begegnete, ob geschrieben oder gesprochen, ob modern oder ausgestorben.
»Ãberlebende? T-t-tote?«, stammelte Hap. »Ãhm ⦠Es ist niemand gestorben. Ich bin hier der Einzige.«
»Was für ein Schiff?« Diesmal war es die Stimme einer alten Frau.
»Häh?«, machte Hap. Er war verwirrt und kam sich dumm vor. »Kein Schiff â nein, ich meine, da war ein Schiff, aber ich bin runtergefallen und hierher geschwommen â¦Â«
Es erhob sich ein Chor geflüsterter Antworten und Fragen, die er nicht beantworten konnte, mit jungen und alten Stimmen, in vertrauten und fremden Sprachen. »Der Kerl sagt, kein Schiff.« »Mensch, wer regiert denn nun in Londria?« »Keine weiteren Ãberlebenden?« »Welches Jahr haben wir denn?« »Schweig, willst du etwa, dass die anderen alles mithören?« Der Krebs krabbelte noch ein Stückchen weiter nach vorn. Hap wich mit einem Blick auf die gefährlich aussehenden Scheren zurück.
Hinter ihm erklang eine weitere Stimme. »Hier ist jemand.« Hap wandte sich um und sah, wie aus einer anderen Felsengrotte ein zweiter Krebs kroch, von dessen Panzer Wasser tropfte. Dahinter lugte noch ein Scherenpaar über den Rand einer Felsspalte. Beide Krebse fingen an zu plappern wie der erste, mit zahlreichen Stimmen. »Gibt es Neuigkeiten aus Andobar?« »Ist immer noch Krieg?« »Wie viele Ãberlebende?« »Wer ist es, ein Pirat?« »Gibt es viele Tote?«
Hap wandte sich an den ersten Krebs: »W-was bist
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