Die Buecherfluesterin
wahrscheinlich bin ich deshalb traurig.«
» Es ist in Ordnung, auch einmal traurig zu sein. Ich hatte selbst auch so einige traurige Momente.«
» Ach ja? Waren Sie verheiratet?«
Kurz runzelt er die Stirn. » Sie ist verstorben.« Sein Tonfall ist angespannt und abschließend.
» Tut mir leid.«
Er nickt leicht, und ich beschließe, nicht nachzuhaken. Stattdessen tue ich, als pflückte ich Fussel von meinem Hemd. » Ich bin völlig fertig. Bestimmt sehe ich zum Fürchten aus.«
» Nein, du bist wunderschön.« Etwas an der Art, wie er es ausspricht, sorgt dafür, dass ich mich auch so fühle. » Ich freue mich schon die ganze Woche darauf, dich wiederzusehen.«
» Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest.« Meine Hände zittern, mein Herz rast, mein Körper verselbständigt sich. » Ich wollte gerade raufgehen und mich umziehen.«
» Ich möchte dich nicht mehr aus den Augen lassen.« Erst jetzt wird mir klar, dass ich unmerklich zum Du übergegangen bin, und ich werde rot. » Äh, gut. Was willst du denn unternehmen?«
Er fährt sich mit dem Finger über die Augenbraue, offenbar eine typische Geste, wenn er nicht weiterweiß oder nachdenkt. » Was hältst du davon, mir das Haus zu zeigen? Schließlich ist es ein Baudenkmal. Und anschließend könnte ich etwas für dich kochen.«
» Du brauchst nicht…«
» Ich möchte aber.«
» Einverstanden. Dann also die Besichtigung.« Ich versuche, mich an alle Kleinigkeiten zu erinnern, die meine Tante mir im Laufe der Jahre über das Haus erzählt hat. » Ursprünglich gehörte es der Sägewerksbesitzerfamilie Walker. Doch das war vor hundert Jahren.«
Er legt seine große Hand auf das verschnörkelte Geländer. » Die elegante Bauweise ist…«
» Queen-Anne-Stil. Die Walkers haben das Haus Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verkauft, als es mit der Holzbranche bergab ging. Bevor meine Tante und mein Onkel es vor dreißig Jahren gekauft haben, hatte es, glaube ich, noch zwei Vorbesitzer. Meine Tante und mein Onkel haben es gemeinsam renoviert. Vor zehn Jahren ist mein Onkel dann gestorben. Herzinfarkt.«
» Das tut mir leid. Deine Tante vermisst ihn sicher.«
Ich habe Onkel Sanjoys gütiges Gesicht vor mir– sein Bäuchlein und seine ständig wässrigen Augen. » Ich vermisse ihn auch. Er war nett zu meiner Tante. Der Buchladen war schon immer ihr Traum. Er war Geschäftsmann. Sie haben nicht hier gewohnt, sondern hatten ein anderes Haus ein paar Straßen weiter. Sie ist erst nach seinem Tod hier eingezogen.«
» Und sie hat nie wieder geheiratet?«
Ich schüttle den Kopf.
» Sicher ist sie einsam.«
» Sie hat ihre Kunden, Freunde, meine Eltern und Tony. Allerdings wird sie inzwischen alt und ist nicht ganz gesund. Sie ist wegen einer Herzoperation nach Indien geflogen.«
» Bestimmt machst du dir Sorgen um sie.«
» Ja, aber sie hat gerade angerufen, um mir zu sagen, dass alles in Ordnung ist.«
Ich atme erleichtert auf. » Aber sie verschweigt mir etwas. Ich kann nur hoffen, dass sie wohlbehalten zurückkommt. Sie liebt diesen alten, staubigen Buchladen.«
» Das kann ich verstehen. Das Haus hat viel Charme.«
Charme. Vielleicht. Ein bisschen. » Äh, komm mit. Ich zeige dir das restliche Haus.«
Ich führe ihn durch die Räume, weise ihn auf die antiken Kamine, die Tapeten und die Vertäfelungen hin und erkläre ihm die verschiedenen Abteilungen des Buchladens.
» Curious George«, liest er vor und zieht in der Kinderbuchabteilung ein gelbes Buch aus dem Regal. » Erinnerungsträchtig…«
» Das habe ich auch gelesen.«
Wir nehmen ein Buch nach dem anderen zur Hand und sprechen über die Geschichten unserer Kindheit.
» Ich mochte Superman, aber die Hardy Boys nicht so sehr«, sagt er.
» Ich habe die Hardy Boys gelesen, dafür aber nicht Nancy Drew. Ich habe für diese Jungs geschwärmt.« Ich greife nach einer alten Ausgabe von What Happened at Midnight.
» Für beide?«
» Ja, allerdings nicht gleichzeitig.«
Connor lacht auf. Er folgt mir ins Antiquariat, wo die hohen Regale mit Bergen muffig riechender Bände vollgestopft sind.
» Meine Tante hat Unmengen alter Bücher hier drin. Vom Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis heute.«
» Sie ist eine Sammlerin. Schau dir das an.« Er greift nach einem dünnen, zerfledderten Buch. » Das ist wirklich alt. Es fällt gleich auseinander.« Er reicht mir das Buch. Ich halte es vorsichtig in den Händen. Tamerlane und andere Gedichte von einem Bostoner. Ein Autor wird nicht
Weitere Kostenlose Bücher