Die Buecherfluesterin
der vor wenigen Wochen unterscheidet, als ich mich, gefangen in einem Nebel von Trauer, auf den Weg zur Insel gemacht habe. Nun ist mein Herz erfüllt von Licht und Meeresbrise.
Die restliche Fahrt schweigen wir, aber ich spüre seinen kräftigen Herzschlag, den Verlauf seiner Muskeln vom Oberkörper bis zu den Schenkeln und seinen Arm, der mich fest umfasst.
Als die Fähre auf die Innenstadt zugleitet, ragen vor uns gläserne Wolkenkratzer auf. Am Ufer sind neue Blocks mit Eigentumswohnungen entstanden. Riesige Kreuzfahrtschiffe liegen ein Stück entfernt an der Küste vor Anker.
» Die smaragdgrüne Stadt«, sagt Connor, während die Leute zum Ausgang drängen. Nach einer Minute stehen wir draußen in der kühlen Luft, die nach Auspuffgasen und Salzwasser riecht. Wir folgen dem Fußgängerüberweg aus Beton, der über den Alaskan Way zur First Street führt. Ich fühle mich leichtfüßig und erwartungsfroh. Während wir in Richtung Second Avenue schlendern, wo wir links abbiegen, späht Connor in Läden, Restaurants und Boutiquen. Vor dem Seattle Art Museum steigen wir in den kostenlosen Bus in die Innenstadt.
Wir gesellen uns zu einem bunten Gemisch von Bewohnern dieser Stadt– einer älteren Frau, einem dicklichen Mann, der Päckchen mit Baseballkarten aufreißt, einem Mädchen, das zur Musik aus einem iPod wippt. Connor bestaunt die Leute, als befände er sich in einem fremden Land.
» Wohin fahren wir?«, flüstere ich aufgeregt. Ich habe schon seit einer Ewigkeit nicht mehr den Bus genommen. Vielleicht seit dem College nicht mehr.
» Irgendwohin.« Connor grinst. Da die Sitze schmal sind, werde ich gegen ihn gedrückt und spüre seine Wärme. Wir kommen an Läden, Restaurants und Cafés vorbei. Dann betätigt Connor den Aussteigeknopf, wir springen aus dem Bus und laufen den Hügel hinauf. Wir sind noch immer im Herzen der Innenstadt zwischen Altbauten aus Backstein und antiken eisernen Laternenmasten. Vor dem Emerald City Bookstore bleiben wir stehen. Im Fenster sind die letzten Neuerscheinungen arrangiert. Etwas zieht mich hinein, Connor folgt mir auf den Fersen. Neonbeleuchtung wirft ein blutleeres Licht auf schlichte, mit den neuesten Taschenbüchern vollgestopfte Regale. Der Boden besteht aus strapazierfähigem Laminat. Stimmengemurmel und der allgegenwärtige Geruch nach Papier und Parfüm schwängern die Luft. In diesen gesichtslosen Räumen liegt nicht mal der Anflug eines Zaubers. Es gibt weder Staub noch Krimskrams oder Polstersessel und Hindugötter.
» Kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine Frau mit rundem Gesicht.
Ich lächle sie an. » Danke, das haben Sie bereits.«
Als Connor und ich den Laden verlassen, blickt sie mir verdattert nach. » Ich will nicht, dass meine Tante ihren Buchladen verliert«, sage ich zu Connor.
Auf dem Weg den steilen Hügel hinauf zum Seattle Center nimmt er meine Hand. » Was bringt dich zu dieser plötzlichen Erkenntnis?«
» Der Emerald City Bookstore. Ihm fehlt jeglicher Zauber. Die eingesackten Sessel meiner Tante, Ganesh, die Bilder an den Wänden… die Bücherstapel… alles Hinweise darauf, dass es ihr Laden ist. Beim Eintreten weiß man sofort, dass es nur ihr Buchladen sein kann. Das ist der Zauber…«
» Zauber, ein passender Ausdruck.« Connor lächelt mich an.
Wir bleiben vor einem Backsteingebäude mit länglichen, abgedunkelten Fenstern stehen. Serious Pie, steht auf einem kleinen Schild neben der Tür. » Schau, Pizza.« Kindliches Staunen schwingt in seinem Tonfall mit.
Ich betrachte sein Gesicht und seinen aufgeregten Augenausdruck. » Sag jetzt nicht, du hättest noch nie Pizza gegessen.«
» Seit Jahren nicht mehr«, erwidert er sehnsüchtig.
» Wo warst du denn die ganze Zeit?«
» Auf Reisen, schon vergessen?« Er geht mit mir in das warme, duftende Restaurant. Der Boden ist rot gefliest, die großen Tische sind aus Eiche.
Eine junge Frau mit frischen Gesichtszügen und weißer Schürze eilt uns entgegen. » Zwei Plätze zum Mittagessen? Hier entlang.« Sie führt uns zu einem Tisch in einer schummrigen Ecke. Connors Hand ruht auf meinem Rücken. Er setzt sich neben mich und stützt den Arm auf die Lehne der Sitzbank. Als wir gemeinsam die Speisekarte studieren, fällt mir das Atmen schwer.
» So viel Auswahl«, stellt er fest. » Falls du Vegetarierin bist, kannst du die Yukon-Gold-Kartoffelpizza nehmen. Mozzarella und Pfifferlinge.«
» Woher wusstest du das?«
» Ich sehe alles und höre alles«, antwortet er und zwinkert
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