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Die Burg der Könige

Die Burg der Könige

Titel: Die Burg der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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genistet. Die Taube breitete die Flügel zum Senkflug aus und schwebte hinab zu den spitzen Türmen, Zinnen, Wasserspeiern und Kirchen mit ihren bunten Fenstern, die im Licht der Abendsonne wie Diamanten funkelten. Von den beiden Türmen der Kirche San Pablo grüßte sie ein ganzer Schwarm grauer Schwestern und Brüder, doch davon ließ sich die weiße Taube nicht ablenken. Sie flog weiter, vorbei an der alten Univer­sität, bis sie endlich den königlichen Palast erreichte. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, steuerte sie auf einen der Festungstürme zu und flatterte durch ein winziges Loch unterhalb der Zinnen. Sofort umgab sie das dämmrige Licht des Taubenschlags, es duftete vertraut nach Mist und Vogelkot, um sie herum gurrten Dutzende andere Tauben. Behandschuhte Finger griffen vorsichtig nach ihr und strichen ihr liebevoll über den Kopf.
    »Braves Tier.«
    Karl V. entfernte den zusammengerollten Zettel aus Seidenpapier, der sich am Fuß des Vogels befand, und streute einige Hirsekörner in eine silberne Schüssel. Hungrig begann das Tier zu picken, und der deutsche Kaiser brach das Siegel des winzigen Briefs.
    Tauben waren Karls große Leidenschaft. Ihr Gurren be­ruhigte ihn nach dem Trubel des Herrscheralltags, ihre Federn waren weich wie die Daunen eines herzoglichen Kissens. Manchmal stieg der Kaiser mehrmals am Tag hinauf in den Turm, um nach seinen Lieblingen Ausschau zu halten. Er hatte es sich angewöhnt, gewisse Befehle per Brief­taubenpost von seinen Residenzen in Toledo und Vallodolid aus persönlich zu erteilen, vor allem diejenigen, die nicht einmal für die Augen seiner wichtigsten Vertrauten bestimmt waren.
    Die kleinen Vögel ermöglichten es Karl, über ein Reich zu herrschen, in dem berittene Boten manchmal wochen- oder monatelang unterwegs waren. Karls Großkanzler Gattinara hatte in den letzten Jahren an allen wichtigen Orten des weiträumigen deutsch-spanischen Reiches, aber auch im französischen Feindesland, Taubenschläge errichten lassen. Einige der Vögel flogen an einem Tag über siebenhundert Meilen weit, von Sevilla bis ins ferne Wien, von Barcelona bis nach Antwerpen wurden Befehle in nur wenigen Tagen übermittelt. Seit Wochen schon wartete Karl auf eine ganz bestimmte Nachricht, und er war gespannt, ob sie heute gekommen war.
    Als er den kleinen Zettel schließlich entrollt hatte, sah er an der Codierung und den Initialen des Absenders sofort, dass es tatsächlich die heißersehnte Botschaft war. Sein Herz schlug schneller. Leise murmelnd überflog Karl die wenigen Zeilen, dann rollte er den Fetzen zu einem winzigen Ball zusammen und hielt ihn über eine in der Ecke stehende brennende Kerze, wo das Papier sich mit einer kurzen hellen Flamme in weiße Asche verwandelte.
    »Sacrebleu!«
    Einige der Tauben flogen erschrocken empor, und Karl biss die Lippen zusammen, um nicht noch einmal laut zu fluchen. Wenn er in Rage geriet, fiel er stets zurück in die Sprache seiner Kindheit, die er in den burgundischen Niederlanden verbracht hatte – und die soeben verbrannte Nachricht war ein triftiger Grund, in Wut zu geraten. Offenbar hatten die Franzosen tatsächlich von dem so lange gehüteten Geheimnis erfahren; einer der Boten war mit einer Abschrift des gestohlenen Dokuments bis nach Paris gekommen. Gattinaras Spione berichteten nun, dass ein Mann in den Wasgau gesandt worden war, um der Sache auf den Grund zu gehen.
    Nachdenklich zerrieb der Kaiser die Asche an seinen Fingerkuppen. Sein Großkanzler hatte also recht daran getan, einen eigenen Agenten in diesen undurchdringlichen Wald irgend­­wo hinter den Vogesen zu schicken. Wie es hieß, war er einer der besten des Reichs, er war bereits vor einigen Wochen aufgebrochen und hatte eigene Nachforschungen angestellt. Doch herausgefunden hatte dieser gutbezahlte Meisterspion bislang noch nichts.
    Wenn die Franzosen vor ihm ihr Ziel erreichen, gieß ich ihm sein Gold in den Rachen, bis er daran erstickt. Und zum Teufel, es wird nicht mein Gold, sondern das aus Gattinaras Privatschatulle sein!
    Karl nickte grimmig, während er seinen gurrenden Täubchen noch mehr Futter hinstreute. Alles lief auf einen Wettlauf hinaus, wer von den beiden Agenten als Erster fündig wurde – und Karl fürchtete, dass dessen Ergebnis das Geschick Europas bestimmen konnte. In den letzten Monaten hatte sein Erzfeind, der französische König Franz I., zwar einige herbe Niederlagen einstecken müssen, doch schon wieder streckte er die Hand nach

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