Die Burg der Könige
genauer, schließlich tastete er den Behälter ab, den er in der Hand hielt. Der Deckel ließ sich lösen und gab den Blick frei auf einen eisernen Griff. Caspar drehte und rüttelte, schließlich zog er fest daran. Ein schnappendes Geräusch erklang, und die Grabplatte öffnete sich nach außen gleich einer Tür.
Mit einem zufriedenen Grinsen sah er, dass dahinter eine Treppe in die Tiefe führte. Er nahm eine der verbliebenen Fackeln aus der Halterung und schlich leise die Stufen nach unten. Abrupt hielt er inne, als von weiter unten das Klicken eines Schlosses zu hören war. Gleich darauf näherten sich schlurfende Schritte.
Nach kurzem Zögern beschloss Caspar, sich in einer Nische zu verstecken und zu warten, bis der Unbekannte in seinem Blickfeld auftauchte. Wenn man hier unten einen Schlüssel brauchte, würde er ihn sich eben schnell und vor allem lautlos besorgen.
Noch immer saß Agnes wie versteinert auf dem Schemel, während die Worte des Dekans in ihr nachhallten.
Seid gegrüßt, Freifrau Agnes von Erfenstein, letzte Nachfahrin Barbarossas …
Um sie herum knieten etwa ein halbes Dutzend Mönche. Melchior von Tanningen und Mathis sahen sie mit offenem Mund an, während sie selbst zu keiner Regung fähig war.
»Aber … aber das kann nicht sein«, brachte sie schließlich hervor. Sie versuchte ein Lachen, doch es klang verkrampft und gequält. »Meine Eltern entstammten beide keinem mächtigen Geschlecht. Mein Vater ist ein einfacher Ritter, er hat den Trifels erst von Kaiser Maximilian verliehen bekommen, und meine Mutter …«
»Die Mutter, von der Ihr sprecht, hat es nie gegeben«, unterbrach sie Pater Domenicus sanft. »Agnes, es ist an der Zeit, dass Ihr die Wahrheit erfahrt! Dieser Bote aus Annweiler, ein alter Gerber namens Nepomuk Kistler, er hat uns alles erzählt. Philipp von Erfenstein und seine Gemahlin Katharina hatten keine eigenen Kinder, sie konnten keine bekommen! Doch eines Tages fanden sie vor den Toren des Trifels ein weinendes, etwa fünfjähriges Mädchen mit blonden verfilzten Haaren. Es hatte nichts weiter bei sich als ein zerknittertes Stück Papier. Darauf stand, dass das Kind von hoher Geburt sei und seine leiblichen Eltern tot. Man solle sich seiner annehmen. Eure Stiefeltern verstanden dies als göttliche Fügung und nahmen das Mädchen als ihr eigenes auf.«
»Meine … meine Mutter …«, begann Agnes erneut, und Tränen rollten in dicken Perlen über ihr Gesicht.
»Ist nicht Katharina von Erfenstein, sondern Friderica aus dem Geschlecht der Staufer! Alle Erstgeborenen nach Sigmund aus der verborgenen Stauferlinie erhielten die Namen Fridericus oder Friderica, um an ihren mächtigen Ahnen zu erinnern. Das hatte die Bruderschaft damals bestimmt. Der Orden lehrte die Erstgeborenen zudem die alte Sprache der Barden, deren Lieder und Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit. Auf dass das Wissen niemals verlorengehe.« Pater Domenicus lächelte. »Auch Ihr seid eine solche Friderica, Agnes. Eure Mutter hatte kein anderes Kind.«
»Und … und mein Vater …«, brachte Agnes mühsam hervor.
»War ein einfacher Annweiler Gerber, der der Bruderschaft angehörte und in das Geheimnis eingeweiht war.« Der Dekan sah Agnes gütig an. »Ich frage mich, ob Ihr noch Erinnerungen an Eure wahren Eltern habt. Immerhin wart Ihr bereits fünf, als Ihr zu den Erfensteins kamt.«
Plötzlich musste Agnes an das alte okzitanische Lied denken, das die Mutter ihr immer vorgesungen hatte. Sie schmeckte die Süße von Milch und Honig und roch einen entfernten Duft von Veilchen …
Coindeta sui, si cum n’ai greu cossire, quar pauca son, iuvenete e tosa …
Konnte es möglich sein, dass diese wenigen Erinnerungen gar nicht Katharina von Erfenstein galten, sondern einer Fremden namens Friderica?
Einer Fremden, die ihre Mutter war.
Noch immer knieten die Mönche vor ihr auf dem Steinboden der Kammer. Es war, als würden sie auf irgendetwas warten, auf ein Zeichen, einen Befehl. Doch Agnes wusste nicht, was das sein konnte. Auch Mathis und Melchior von Tanningen starrten sie so seltsam an, als wäre sie seit den Erklärungen des Dekans eine völlig andere.
»Eine legitime Nachfahrin der Staufer und der Welfen, versteckt auf dem Trifels!«, seufzte Melchior und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn das wirklich stimmt, werde ich mit dieser Geschichte den Wartburger Sängerwettstreit ganz sicher gewinnen.«
»Von … von meiner Mutter habe ich geträumt …«, begann Agnes
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