Die Burg der Könige
so lange gewesen?
Kurz hinter Annweiler, als die Sonne gerade in einem glutroten Ball über der Stadt versank, wurde ihre Müdigkeit so stark, dass sie nicht mehr weitergehen konnte.
»Ich … ich glaube, ich muss mich ein wenig hinlegen«, sagte sie. Ihre Beine waren plötzlich weich wie Wachs. Sie schaffte es gerade eben noch, sich auf den Waldboden zu setzen, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.
Sei gegrüßt, Agnes …
Sie schüttelte sich, und die Schwärze war verschwunden.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Mathis besorgt. »Hast du vielleicht Fieber?«
Agnes atmete tief durch. »Nein, nein. Es war wohl nur alles ein wenig viel heute.« Sie lächelte die beiden Männer aufmunternd an. »Was haltet ihr davon, wenn ihr mich ein wenig ausruhen lasst, während ihr zwei den Trifels in Augenschein nehmt? Morgen geht es mir sicher wieder besser. Vielleicht erinnere ich mich bis dahin ja an irgendeine Kleinigkeit.«
Mathis runzelte die Stirn. »Wir sollen dich hier allein lassen? Ich weiß nicht …«
»Denkt an die Träume, Meister Wielenbach«, unterbrach ihn der Barde. »Wir wollen doch, dass die Dame träumt, nicht wahr? Und Fieberträume gelten als besonders stark. Außerdem, ein wenig Schlaf kann ihr wahrlich nicht schaden. Es war ein langer Marsch heute.«
»Also gut«, sagte Mathis zögernd. »Wir sind in spätestens zwei Stunden wieder zurück. Aber du rührst dich nicht vom Fleck, verstanden?«
»Ja, mein großer starker Mann.« Trotz ihrer Müdigkeit schaffte es Agnes zu lächeln. »Ich werde ganz brav sein, versprochen.«
Mathis nickte, und schon bald darauf war er mit Melchior von Tanningen im Wald verschwunden.
Noch eine kurze Zeit lang hörte Agnes das Knacken der Zweige, dann zwitscherten nur noch die Vögel in der Abenddämmerung. Sie schloss die Augen, Ruhe durchströmte ihren Körper, und gleich darauf fiel sie in einen tiefen bleiernen Schlaf.
Zum ersten Mal seit Wochen träumte sie wieder, und der Traum war so entsetzlich, dass er sie im Schlaf immer wieder leise aufschreien ließ.
Es war der Traum, mit dem alles endete …
… eine steinerne Kammer, wie das Innere eines Würfels. Ein stetes Flackern erhellt den Raum; es leuchtet nur schwach und stammt von einem einzelnen blakenden Kerzenstummel, der auf einem Stein steht. Bienenwachs tropft zischend zu Boden. Eine klagende Stimme hallt durch das Gemäuer, sie singt das alte okzitanische Wiegenlied.
Coindeta sui, si cum n’ai greu cossire …
Agnes braucht eine Weile, bis sie merkt, dass es ihre eigene Stimme ist, die da singt. Sie steht an einer der Wände, in der Hand ein Stück Kohle, und ritzt eine Zeichnung in den Fels. Es ist zu dunkel, um mehr zu erkennen. Agnes weiß nur, dass sie drei Farben verwenden kann, mehr besitzt sie nicht.
Schwarze Kohle. Grünes Moos. Rotes Blut.
Die Kohle hat sie auf dem Boden ihres Kerkers gefunden, das glitschige Moos stammt aus der Nische neben der Öffnung, dort, wo sie zum letzten Mal die Sonne sah.
Das Blut ist ihr eigenes.
Eine Welle unsäglichen Schmerzes strömt durch ihren Körper, so als würde ihr erst jetzt bewusst, was mit ihr geschehen ist. Der Schmerz ist so gewaltig, dass er ihr die Luft zum Atmen nimmt. Mit glühenden Zangen haben sie ihr die Brüste verbrannt, ihr auf der Streckbank den linken Arm ausgekugelt, Nägel in ihr Fleisch getrieben und ihr mehrere Fingernägel gezogen.
Doch sie hat geschwiegen.
Nun singt sie nur noch leise, gelegentlich entkommt ihren vom vielen Schreien ermatteten Stimmbändern ein klagendes Wimmern. Mit blutigen Stumpen malt sie ihr Bild fertig, während der Schmerz wieder in seine Höhle zurückkriecht. Er macht einem anderen Gefühl Platz, das beinahe ebenso stark ist.
Hunger und Durst.
Agnes’ Lippen sind rissig, die Zunge ein ballonartiger, fremder Klumpen in ihrem Mund, der Magen ein gähnendes, unendlich tiefes Loch.
Sie ist so erschöpft, dass sie sich gelegentlich im Stehen an die Wand lehnt und für wenige Augenblicke einnickt. Doch sie darf nicht umfallen, nicht einschlafen, sie muss weitermalen, bevor die letzte Kerze verlischt.
Sie hat ihr Kind nicht verraten. Das Kind nicht und auch nicht die Lanze. Das ist alles, was zählt. Das Geschlecht der Staufer wird nicht aussterben. Und sie hat ihrem Sohn den Ring und die Urkunde mitgegeben, die ihn irgendwann zum rechtmäßigen Herrscher über das Reich machen werden. Die Heilige Lanze wird ihm dabei helfen, ihre gemeinsamen Feinde ein für alle Mal in die Flucht zu
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