Die Burg der Könige
schlagen. Mit der Lanze werden die Heere der Habsburger sich zerstreuen wie Staub im Wind.
Die Gerberfamilie, in deren Obhut der Junge sich befindet, kennt den Satz. Den Satz, der das Versteck der Heiligen Lanze verrät. Sie werden ihm den Ort sagen, wenn er alt genug ist, um zu verstehen.
Den Ort, wo alle Feindschaft endet.
Leise summend malt Agnes weiter an ihrem Bild. Es gibt ihr Trost und Kraft. Das Bild zeigt den Ort, wo alle Feindschaft endet. Sie wiederholt den Satz immer und immer wieder, wie ein leises Gebet.
Als sie den letzten Strich, die letzte farbige Linie, mit ihrer blutigen Hand nachzieht, erlischt die Kerze. Es ist dunkel.
Für immer.
Agnes schrie laut auf, dann schlug sie die Augen auf. Einen ewig langen Moment glaubte sie, sich noch immer in jener unheimlichen Gruft zu befinden. Um sie herum war alles schwarz. War sie etwa lebendig eingemauert? Doch dann hörte sie die leisen Geräusche des Waldes, sie spürte das vertraute Piksen der Tannennadeln unter ihren Schultern, und plötzlich wusste sie wieder, wo sie war.
Sie befand sich nahe dem Trifels, und sie hatte geträumt.
Der Traum war so lebendig gewesen wie die Träume im letzten Jahr auf der Burg. Wie damals war sie Constanza, doch diesmal waren es die letzten Momente der Stauferin gewesen, die sie miterleben musste. Vorsichtig streckte Agnes ihre Hände aus, fast in der Erwartung, sie würden noch immer von der Folter schmerzen. Welches Leid hatte diese Frau erfahren müssen! Was für ein schrecklicher, einsamer Tod, irgendwo eingemauert im Trifels. Noch immer kreiste dieser seltsame Spruch, den Constanza vor sich hingemurmelt hatte, durch ihren Kopf.
Der Ort, wo alle Feindschaft endet.
War Constanza in Gedanken vielleicht bereits im Paradies gewesen? Oder hatte sie damit tatsächlich das Versteck der Heiligen Lanze beschrieben?
So sehr in Gedanken versunken war Agnes, dass sie die Schritte erst hörte, als sie bereits ganz nahe waren. Freudig erhob sie sich von ihrem Lager.
»Mathis, Melchior?«, flüsterte sie. »Seid ihr das? Stellt euch vor, ich habe …«
Grobe Hände schoben ein paar Fichtenzweige zur Seite, und Agnes brach erschrocken ab. Ein breitschultriger Bauer mit Triefnase und Glubschaugen starrte auf sie herab wie auf einen seltenen Vogel.
»Ha, hab ich doch recht gehabt«, brummte er. »Das war ein Schrei, den wir da vorher gehört haben.«
Dann wandte sich der Bauer nach hinten. »Joseph, Andreas, Nepomuk!«, brüllte er, und seine Stimme war für Agnes wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. »Schaut mal, was ich da Hübsches gefunden hab. Na, da wird der Jockel aber Augen machen!«
***
Gemeinsam mit Melchior von Tanningen schlich Mathis durch das abschüssige Dickicht, das sich unterhalb des Trifels ausbreitete. Sie hatten sich dafür entschieden, sich der Burg von der Nordseite her zu nähern, dort, wo der Hang am steilsten und deshalb auch am schlechtesten bewacht war.
Vorsichtig tappte Mathis durch das Gehölz, durch das er früher so oft mit Agnes gestromert war. Der Trifels war jetzt ganz nah. Schon konnte er zwischen den Blättern den Palas erkennen, in einigen der Fensterlöcher flackerten Lichter. Plötzlich übermannte Mathis eine tiefe Sehnsucht nach diesem Ort, an dem er seine Kindheit verbracht hatte. Er musste an seinen verstorbenen Vater denken, aber auch an seine Mutter und an seine nun bereits neunjährige Schwester Marie, deren kärgliches Zuhause sich nur einen Steinwurf von hier entfernt befand. Unendlich stark war der Wunsch, einfach zu ihnen hinüberzulaufen, um zu sehen, ob es ihnen gutging. Aber die Gefahr war zu groß, dabei von Jockels Männern entdeckt zu werden. Zunächst galt es, die Lage zu sondieren, zumal Mathis nun ganz in der Nähe Stimmen und Gelächter hörte. Er ließ sich auf den nach Tannennadeln und feuchter Erde duftenden Boden nieder und robbte die letzten Schritte hin bis zu der Stelle, wo der Wald aufhörte und die breite Straße begann, die zur Burgrampe führte. Neben ihm tat Melchior das Gleiche.
Als Mathis schließlich seinen Kopf aus dem Gebüsch hervorstreckte, traf ihn der Anblick wie ein Schlag.
Unweit des Brunnenturms brannten in regelmäßigen Abständen Feuer, an denen buntgekleidete Männer saßen, lärmten und Weinkrüge kreisen ließen. Es mussten über fünfzig von ihnen sein. Überall steckten Spieße im Boden; dazwischen sah Mathis einige mittelschwere Geschütze, vor denen sich Haufen von Steinkugeln befanden. Kriegsgesänge wehten bis zum Wald
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