Die Buße - Gardiner, M: Buße - The Liar's Lullaby
toxikologischen Untersuchung. Bei richtiger medikamentöser Behandlung konnten Menschen mit bipolarer Störung leistungsfähig und kreativ sein. Sie wurden Ärzte, Informatiker, Künstler. Mehrere klassische Komponisten waren bipolar gewesen.
Aber oft setzten die Leute ihre Medikamente ab, weil sie das manische Hochgefühl liebten. Sie liebten die eruptive Kreativität, die damit einherging.
Nicht umsonst war »Kunst und Wahnsinn« ein gängiges Klischee. Im Studium hatte Jo eine Vorlesung über Psyche und Musik besucht. Es gab deutliche Hinweise darauf, dass Schumann an einer bipolaren Störung litt. Und Gershwin hatte möglicherweise eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Der psychische Zustand eines Komponisten wirkte sich natürlich auf seine Werke aus. Bipolare Komponisten, so erinnerte sie sich, liebten repetitive melodische Motive und waren manchmal geradezu besessen von bestimmten Klängen oder Tempi.
Jo hörte sich noch einmal »The Liar’s Lullaby« an. Ihr musikalisches Gehör war zu wenig geschult, um irgendwelche in der Melodie verborgenen Hinweise zu erkennen, aber schon der Text allein war ziemlich verstörend. You say you love our land, you liar, who dreams its end in blood and fire. Die dritte Strophe war weniger unheimlich, aber ebenfalls sehr traurig.
I fell into your embrace
Felt tears streaming down my face
Fought the fight, ran the race
Faltered, finally fell from grace.
Ich sank in deine Umarmung
Fühlte Tränen auf meinen Wangen
Nahm den Kampf auf, lief das Rennen
Strauchelte und fiel schließlich in Ungnade.
Jo trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Ging es in dieser Strophe vielleicht um Tasias Ehe?
Aus der gemeinsamen Zeit von Tasia und Robert McFarland
existierten nur wenige Fotos. Aber im Internet stieß sie auf eine alte, sehr anschauliche Fotoreportage. Tasia hatte McFarland bei einem Auftritt für die Truppen kennengelernt, und mehrere Bilder belegten, wie sie sich unter die Soldaten mischte. McFarlands markante Erscheinung war unverwechselbar. Er sprühte nur so vor Jugend, Attraktivität und Selbstsicherheit. Auf einer fröhlichen Aufnahme hatten McFarland und ein Offizier mit rundem Schädel, in dem sie den jetzigen Stabschef des Weißen Hauses K.T. Lewicki erkannte, Tasia auf die Schultern gehoben. Auf einer anderen, die wahrscheinlich kurz nach der Hochzeit entstanden war, schäumten die McFarlands geradezu über vor Lebensfreude - die sie anscheinend aus der Gesellschaft des jeweils anderen bezogen. Tasia sah aus wie eine kesse Cheerleaderin, bereit, die Armee im Alleingang zum Sieg zu treiben. McFarland wirkte wie der glücklichste Mann auf Erden: selbstbewusst, getragen von Liebe und selbstlos stolz auf seine begabte junge Frau. Sie lachten, als hätte die Welt ihnen all ihre Geheimnisse anvertraut.
Um neun meldete sich Tang. »Am Vormittag findet Tasias Autopsie statt. Medizinische und psychiatrische Unterlagen kriegst du vielleicht schon heute Nachmittag, aber die Toxikologie und Blutresultate dauern noch einige Tage. Um zehn hast du ein Treffen mit ihrer nächsten Verwandten - ihrer Schwester Vienna Hicks.«
Jo notierte sich die Telefonnummer der Frau. »Ist dir bekannt, dass die Presse von der Polizei Informationen über mich bekommen hat?«
»Ich hab dir ja gesagt, das wird ein billiger Nervenkitzel. Aber ich werd die Kollegen daran erinnern, dass sie den Mund halten sollen.«
Jo wandte sich wieder dem Foto von Tasia und Robert McFarland zu: ein junges, verliebtes Paar. Sie hatte keine Ahnung, warum Tasia knapp zwanzig Jahre später geschrieben hatte: But Robby T is not the one; all that’s needed is the gun. Vielleicht konnte ihr Tasias Schwester mehr darüber erzählen.
KAPITEL 12
Kurz vor zehn fuhr Jo in die Innenstadt. Die Straßen des Bankenviertels waren verstopft mit Autos und Lieferwagen. Auch auf den Gehsteigen herrschte Gedränge. In den Fensterscheiben blitzte das Sonnenlicht, und durch die Wolkenkratzerschluchten peitschte der Wind. Als Jo die Tür zu einem Café aufdrückte, hörte sie Besteck klappern. Die Angestellten hatten Gesichtspiercings und trugen Protestanstecker an ihren Baskenmützen. Vienna Hicks winkte ihr von einem Fenstertisch.
Jo schob sich durch den überfüllten Raum. Hicks stand auf und ergriff ihre ausgestreckte Hand. »Hallo, Dr. Beckett. Ich bin Vienna.«
Vienna Hicks war über eins achtzig groß und wog etwa neunzig Kilo. Sie trug ein makelloses graublaues Kostüm, ihr Haar loderte rot
Weitere Kostenlose Bücher