Die Buße - Gardiner, M: Buße - The Liar's Lullaby
Morgenlicht.
Die Nachrichten gingen weiter. Kein Wort über ein brennendes Handelsschiff, das achthundert Kilometer vor der
Küste mit dem Heck im Wasser trieb. Kein Wort über den 129th Rescue Wing. Unfälle auf dem Meer konnten Rettungskräfte ins Verderben reißen. Mit verspannten Schultern wartete sie auf die Worte Air National Guard. Nichts.
Schließlich schnappte sie sich ihre Klettermontur und fuhr zu Mission Cliffs. Sie fand einen Partner zum Sichern und verbrachte eine Dreiviertelstunde in der Hauptwand der Halle. Das beruhigte sie. Wenn sie zwanzig Meter über dem Boden hing und nur gähnende Leere zwischen sich und einem gebrochenen Genick fühlte, bekam sie immer einen klaren Kopf.
Um acht saß sie am Schreibtisch. Sie hatte endlich Daniels Mountainbike und die alten Nummern der Zeitschrift Outside weggegeben und das vordere Zimmer zum Büro umgestaltet. Auf dem Bücherregal standen goldene Orchideen, und an der Wand hing ihre Lieblingskarikatur aus dem New Yorker, auf der ein Ertrinkender »Lassie, hol Hilfe!« ruft und Lassie sich an einen Psychiater wendet.
Normalerweise begann eine psychologische Autopsie mit der Lektüre des Polizeiberichts und der medizinischen und psychiatrischen Behandlungsunterlagen des Opfers. Um zu erkennen, ob ein natürlicher Tod, ein Unfall, ein Selbstmord oder ein Mord vorlag, musste sie nicht nur die Krankengeschichte auswerten, sondern auch den persönlichen Hintergrund und die Beziehungen des Verstorbenen. Jo befragte Verwandte, Freunde und Kollegen, um Hinweise aufzuspüren, die auf Selbstmord oder bedrohliche Absichten eines Dritten deuteten. Auf diese Weise rekonstruierte sie den zeitlichen Ablauf bis zum Todestag.
Da ihr keine offiziellen Akten zur Verfügung standen, las
sie die Presseberichte über Tasia McFarlands psychische Probleme. Es war eine traurige, grausame Geschichte, und Tasia hatte nicht gezögert, darüber zu reden.
Mit zweiunddreißig war sie als bipolar diagnostiziert worden. Doch schon viele Jahre davor war sie zwischen Manie und Depression hin- und hergewechselt. Die Öffentlichkeit wurde Zeuge von rauschhaften Höhenflügen und heftigen Bruchlandungen - Wutattacken, Autounfälle, exzessiver Drogenkonsum, kreative Schübe -, während sie den Wandel von der begnadeten jungen Sängerin zum verkrachten Partyluder und zur Comeback-Königin vollzog. Kurz, wie es die Zeitschriften Rolling Stone, Mother Jones und People ausdrückten: Sex, Drogen und Rock and Roll.
Bipolare Störung war eine niederschmetternde Diagnose. Im Diagnostischen und statistischen Handbuch psychischer Störungen, dem sogenannten DSM-IV, wurde eine Bipolar-I-Störung als das Auftreten einer oder mehrerer manischer oder gemischter Episoden definiert. Dazu kamen allerdings häufig auch starke depressive Phasen.
Während einer manischen Episode brauchten die Betroffenen eine Woche, manchmal sogar einen oder zwei Monate lang kaum Schlaf und spürten keine Müdigkeit. Sie waren obenauf. Sie lernten eine neue Sprache oder ein Instrument. Dieses außerordentliche Gefühl von Energie und Macht trat völlig spontan auf. Ein euphorieauslösendes äußeres Ereignis, wie ein Universitätsabschluss oder der Gewinn eines Oscars, war nicht nötig.
Jo fragte sich, warum Tasia an dem Abend, als sie in ihrer Heimatstadt vor einem voll besetzten Stadion einen Hit sang, derart die Kontrolle verloren hatte.
Manische Menschen waren oft gesellig und unterhaltsam. Psychiater in der Ausbildung bekamen deshalb eine Warnung mit: Wenn man einen Patienten zu faszinierend findet, sollte man Manie als mögliche Diagnose in Erwägung ziehen. Doch manische Menschen konnten nicht nur liebenswert sein, sondern auch anstrengend.
Und wenn die Patienten in Depressionen verfielen, stürzten sie ab. Sie wurden von Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühlen überwältigt. Häufig war Selbstmord die letzte Konsequenz.
Am schlimmsten waren jedoch die gemischten Episoden, in denen die Stimmungsstörung einer Person zugleich den Kriterien einer manischen und einer depressiven Phase entsprachen. Diese gemischten Episoden ließen sich äußerst schwer diagnostizieren. Nach Jos Überzeugung waren solche Zustände besonders häufig dafür verantwortlich, dass sich Menschen das Leben nahmen.
Sie musste daran denken, wie der Stuntkoordinator Rez Shirazi Tasia beschrieben hatte: voller Energie, aber bedrückt.
Jo holte sich eine Tasse Kaffee. Sie brauchte Unterlagen über Tasias Medikamentenkonsum und die Ergebnisse der
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