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Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sich die Wangenknochen ab. Und dann die tiefen blauen Höhlen seiner Augen. Sie muss ihn überreden, Buenos Aires zu verlassen. So bald wie möglich. Er wird es nicht einsehen wollen: Jetzt nicht, später, der PCO , die Kommunistische Arbeiterpartei, ist erst im Aufbau und er im Parteivorsitz. Siehst du das nicht, mein kleines Mädchen? Du wirst sterben. Der Arzt, ein Genosse aus dem PCO , hat schon vor über einem Monat die Diagnose getroffen: Tuberkulose.
    Heute hat er es Mika noch einmal gesagt, als sie ihn bei seinem Bereitschaftsdienst im Krankenhaus besuchte, um ihn um Rat zu fragen: Bring ihn fort von hier, Mika, sein Zustand ist kritisch. Er braucht frische Luft, trockenes Klima und Ruhe. Und vor allem andere Lebensbedingungen. Das tagelange Hungern und die Nächte ohne ein Dach über dem Kopf, nachdem er von seiner Familie ausgezogen war, haben ihn krank gemacht.
    Nach Patagonien will sie mit ihm, das fand der Arzt eine hervorragende Idee. Mit Appellen an seine Gesundheit, sich schonen und weniger arbeiten, würde sie ihn allerdings nicht überzeugen können, eher schon könnte ihn die Aussicht locken, die Organisation der Arbeiterbewegung im Süden voranzutreiben.
    Sie weiß, dass ihr nicht viel Zeit bleibt. Sie wird ihm reinen Wein einschenken: Natürlich braucht dich die Partei, die Revolution, aber wenn du krank bist, was willst du ausrichten.
    Nein, das Beste wird sein, mit den Aufzeichnungen zu beginnen. Mika hat bisher nichts gesagt, aber sie liest seit Tagen La Vanguardia und macht sich Notizen über das Massaker, das 1922 in Patagonien an den Landarbeitern verübt wurde. Die mächtige Organisation, zu der sich die Schafhirten zusammengeschlossen hatten, hatte bei den Großgrundbesitzern Panik ausgelöst, so dass sie mit brutaler Gewalt gegen die Arbeiter vorgegangen waren. Die Sicherheitskräfte, die Buenos Aires geschickt hatte, hatten mehr als eintausendfünfhundert von ihnen ermordet.
    Mika hat ihre Aufzeichnungen abgetippt, sie könnten sie gemeinsam durchgehen. Und auf die Empörung, die die darin zusammengetragenen Fakten bei Hipólito auslösen würden, dann ihr Vorschlag: wie wäre es, wenn wir nach Patagonien reisen und diesen Vorfällen auf den Grund gehen, wir reden an Ort und Stelle mit Überlebenden, Angehörigen, Zeugen, mit allen, die uns Auskunft geben können.
    Es wird ihr nicht schwerfallen, Hipólito für dieses Vorhaben zu begeistern, das den Arbeitern dabei helfen wird, sich nach dem Blutbad und den großen Verlusten neu zu organisieren. Sie ist sich ihrer Sache sicher, es ist nicht nur ein Vorwand, um Hipólito aus Buenos Aires hinauszulocken, damit er sich auskurieren kann. Wenn man die Arbeiter auf so blindwütige Weise abgeschlachtet hat, dann, weil ihre neugegründete und starke Organisation an den Grundfesten der Macht gerüttelt hatte. Mika und Hipólito werden viel mehr herausfinden als das, was bisher ans Licht gekommen ist, und den Weg für die Fortführung des Kampfs bereiten. Je mehr sie liest, desto mehr verspricht sie sich von diesem Plan.
    Und sie freut sich darauf, mit ihrem Beruf ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mika hat Ende des letzten Jahres ihr Zahnarzt-Diplom erworben, so wie sie es sich in ihrem ersten Semester in Buenos Aires vorgenommen hatte.
    Der Moment kommt ihr in den Sinn, als sie ihren Eltern die Urkunde gezeigt hat, und sie spürt Rührung in sich aufsteigen: Unsere Mika, eine Ärztin!, in diesen Worten steckte Bewunderung, aufrichtige Freude. Schade, dass ihre Mutter immer wieder mit dem Unsinn kommt, warum sie nicht heiraten und ob auch er mit seinem Studium fertig ist.
    Hipólito hat sein Studium der Ingenieurswissenschaften schon vor langer Zeit aufgegeben, aber er studiert die Schriften fleißiger als sie alle. Doch auf der anderen Seite versteht Mika ihre Mutter durchaus, darum hat sie ihn auch bekniet, diese Ausbildung zum Zahntechniker zu machen, damit verdient man gutes Geld. Wie immer, wenn Hipólito sich etwas vornimmt, hat er auch das perfektioniert.
    Sie werden zusammen in diesem wilden Landstrich leben und arbeiten. Recherchieren, schreiben und lernen in dieser überwältigenden Landschaft. Und sich in aller Ruhe lieben, wunderbar.
    Hipólito wird sie nicht fragen, wie sie die Strecke zurücklegen wollen, auch darüber, wovon sie leben wollen, wird er sich keine Gedanken machen. Aber Mika wird es ihm vorsorglich erklären: Erst mal werden sie in Patagonien in irgendeinem Dorf oder einer Stadt eine Praxis aufmachen, und nach einer

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