Die Cassini-Division
Wucherer,
Muslime im Osten und Hindus im Westen… Sie aber belehrte
mich eines Besseren. Die großen Migrationsströme aus
der Zeit des Grünen Tods und dem dunklen Jahrhundert waren
buchstäblich über die Stadt hinwegmarschiert und hatten
die frühere Aufteilung der Kulturen hinfällig werden
lassen.
Je näher wir im Verlauf der nächsten Stunde Camden
Market kamen, desto stärker wurde der Personenverkehr. Es
gab nur wenige Motorfahrzeuge und kaum mehr Pferdekarren und
Kutschen. Die Fußgänger traten zumeist in Gruppen auf:
muntere Touristen mit Rucksäcken und Gewehren, die uns beim
Vorbeifahren zuwinkten; und gesetztere Trupps von NiKos, die
schwer bepackt einherstapften, auf überladenen Tieren ritten
oder auf nicht minder überladenen Pferdekarren fuhren. Die
NiKos hatten bloß misstrauische Blicke oder ein gerissenes
Lächeln für uns übrig.
Camden Lock Market, eine am Schnittpunkt mehrerer
Straßen und eines größeren Kanals gelegene
große Lichtung, sah aus wie ein Ort, den die Bäume
– und deren Anhänger – nie in Besitz genommen
hatten. Wie Alexandra Port, im Unterschied zu diesem aber eher
aus ökonomischen als aus strategischen Gründen, hatte
Camden Market alle Katastrophen, die über die Stadt
hereingebrochen waren, nahezu unbeschadet überstanden. Der
Ausdehnung nach war der Markt jetzt sogar größer als
im einundzwanzigsten Jahrhundert, denn mehrere andere
traditionsreiche Londoner Märkte im Osten lagen nun bei Ebbe
zwei Meter unter dem Wasser der Themsemündung.
Unsere erste Anlaufstelle war das Unionsdepot, ein von einem
Palisadenzaun umgebenes Gelände am Rande des Marktes. Hinter
dem nachlässig bewachten Tor befanden sich eine Tiefgarage,
ein Lagerhaus und ein Gebäude, in dem man übernachten
und ausspannen konnte. Suze musterte es verächtlich.
»Das ist was für Weichlinge«, meinte sie.
»Was hat es für einen Sinn, hierher zu kommen, wenn
man sich nicht unters Volk mischen will?«
Als wir den Wagen abgestellt und die Rucksäcke
geschultert hatten und ein paar Minuten umhergeschlendert waren,
wurde mir klar, was sie meinte. Dieser Ort war bestens dazu
geeignet, den meisten Unionsbewohnern einen schweren Kulturschock
zu versetzen. Der Markt wirkte auf mich vollkommen chaotisch, und
was an meine Ohren drang, war – um einen alten Ausdruck zu
benutzen, dem eine ganz ähnliche Erfahrung zugrunde gelegen
haben muss – ein babylonisches Sprachgewirr.
Was es auf dem Markt alles gab: lang gestreckte,
abgezäunte Flächen mit traurig dreinblickenden Tieren;
bluttriefende Marmortische, auf denen Tierfleisch gestapelt war;
Fische, die in Glasbehältern schwammen oder auf dem
Trockenen zappelten; überdachte Holztische voller
Töpferwaren, Bücher, Elektrogeräte,
Kleidungsstücke, Stoffe, Kräuter, Drogen,
Antiquitäten, Nahrungsmittel; Ständer, an denen Kleider
und Mäntel in der warmen Brise schwankten.
Hinter jedem Tisch stand jemand, dessen einzige Aufgabe es
war, aufzupassen, mit den Menschen auf der anderen Tischseite zu
sprechen, Waren hinüberzureichen und Geld in Empfang zu
nehmen. Die Verkäufer und die Käufer feilschten,
zankten, scherzten, neckten, priesen an und lehnten ab; dazu kam
die aufgezeichnete Musik, die jeder Standbesitzer und die meisten
ihrer Kunden allen Umstehenden aufzwangen und die mit einer
unerträglichen Lautstärke von tragbaren Geräten
hervorgebracht wurde, die sinnigerweise Lautsprecher
hießen.
Dann waren da noch die Gerüche: die der Tiere und ihres
Kots und ihres Bluts, die der schwitzenden Menschen und der
Substanzen, die diese Gerüche vergeblich zu überdecken
suchten, und die Dünste der Kräuterdrogen, die man, wie
ich vermutete, nicht der Entspannung willen sondern aus purer
Notwendigkeit rauchte.
Vor einem Stand, an dem getrocknete Tabak- und
Hanfblätter in Form beschrifteter Bündel oder in
offenen Kästen feilgeboten wurden, blieb ich stehen. Die
Frau hinter dem Stand trug eine hübsche bestickte
Baumwollbluse und einen langen, farbig bedruckten Baumwollrock,
der an der Hüfte von einem Zugband zusammengehalten wurde.
Ihr Alter war schwer zu schätzen – wie so viele
erwachsene NiKos verband sie die teilnahmslose Wachsamkeit des
Alters mit dem unschuldigen Egoismus der Jugend, außerdem
gab ihre Schminke eine erstaunliche Maske ab: Ihre Wangen waren
rot bemalt, der Rest des Gesichts weiß, die Augen waren
dunkel eingefärbt und die Lippen gerötet, als
hätte
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