Die Cassini-Division
Virtuellen eine komplette
posthumane Kultur entstehen lassen, ihr ein paar
tiefschürfende Fragen gestellt und sie anschließend vernichtet?«
»Ja«, erwiderte ich und musste kichern, als ich
sein entsetztes Gesicht sah. Auch Suze war erstaunt über
diesen Teil der Geschichte, den die Division bislang verschwiegen
hatte. »Okay, es war nicht ganz ungefährlich –
ich würde einer posthumanen Kultur nicht einmal dann trauen,
wenn ich sie in einem Eimer halten würde. Aber jedenfalls
volle Punktzahl für Initiative.«
»Und null Punkte für die Moral«, erwiderte
Malley. »Das ist in kleinem Maßstab das Gleiche wie
das, was Sie mit den Jupiteraner vorhatten, nur weniger
entschuldbar.«
Ich nickte energisch. »Wilde hat eine eigene Auffassung
vom wahren Wissen«, sagte ich. »Obwohl er ein NiKo
ist.«
Malley seufzte. »Das wollen wir lieber nicht vertiefen.
Wie ist er auf die Flugroute gekommen, wie hat er den Weg durchs
Tochterwurmloch zum Neuen Mars gefunden?«
»Ach«, meinte ich, »die hatten sie von den
Außenweltler-Makros.«
Malley machte große Augen. »Die Außenweltler
haben sie ihnen verraten?«
Ich breitete die Arme aus. »Einer oder mehrere von
ihnen. Wir wissen nicht, ob das zuvor als Belohnung für den
Betreiber der Zwangsarbeitsfirma vereinbart worden war –
für einen gewissen David Reid, einen üblen Burschen,
der auf dem Neuen Mars wahrscheinlich immer noch eine große
Nummer ist –, oder ob das Tochterwurmloch von den
Außenweltlern für andere Zwecke angelegt wurde und ob
Reid und Konsorten die Informationen einfach so ergatterten, als
die Außenweltlermakros degenerierten.«
»Ah«, machte Malley. »Auf die Idee bin ich
auch schon gekommen. Wir könnten sie einfach mal
fragen.«
Daran hatte ich wirklich noch nicht gedacht.
*
Tatsuro saß am Kopfende des langen Tisches, kritzelte
auf einen Notizblock und kämmte sich das schüttere Haar
mit den Fingern. Die Komiteemitglieder saßen oder standen
herum, unterhielten sich und tranken Kaffee. Eine weitere
Kontaktsession war soeben beendet, auf Viren überprüft
und an den Rest der Division übermittelt worden. Clarity
hatte sich in eine Darstellung des Meinungsbilds zu den
Gesprächen vertieft; anscheinend änderte es sich
gerade.
Malley und ich näherten uns Tatsuro.
»Wir haben ein Problem«, sprach ich ihn an.
»Möglicherweise aber auch eine Lösung.«
Während er mir zuhörte, beobachtete ich seine Mimik.
Kaum wahrnehmbare Enttäuschung, Verärgerung, Misstrauen
und ein schwacher Hoffnungsschimmer.
»Einen Versuch ist es wohl wert«, sagte er
schließlich. »Aber dann wissen sie, dass wir
hindurchfliegen wollen.«
»Das würden sie sowieso merken, wenn es so weit
ist«, erwiderte ich. »Zumindest müssen wir davon
ausgehen.«
Tatsuro nickte bedächtig. »Mag sein. Allerdings
muss ich sagen, dass astronomische Beobachtungen aus der
Jupiteratmosphäre heraus selbst für sie nur schwer zu
bewerkstelligen sind. Wenn wir sie nach der Flugroute fragen,
sollten wir jedenfalls vermeiden, bei ihnen Befürchtungen zu
wecken.«
Ich zuckte die Achseln. »Unser Interesse an einer
anderen menschlichen Zivilisation sollte doch nachvollziehbar
sein…«
»Aha!«, sagte Malley. »Wie wär’s
damit? Die Jupiteraner haben vielleicht noch…
äh… ein Hühnchen mit den Meuterern zu rupfen,
stimmt’s? Und Sie auch, könnte ich mir vorstellen. Hat
der Betreiber der Zwangsarbeitsfirma nicht auch ein paar von
Ihren Leuten für seine Arbeitsbrigaden
verpflichtet?«
»So könnte man es ausdrücken«, bemerkte
ich säuerlich. Bislang hatte ich noch nicht bedacht, dass
die Verantwortung für die lange zurückliegenden
Überfälle und Toten eher Reids Firma zuzuschreiben war
als seinen Kunden, den Außenweltlern. Obwohl es darauf wohl
kaum mehr ankam.
»Zumal wenn sie glauben würden, dass sie damit aus
der Verantwortung herauskämen«, sagte Tatsuro.
»Okay, bei der nächsten Kontaktaufnahme sprechen
wir’s an.«
»Übrigens«, sagte ich, »mit wem sind
wir eigentlich in Kontakt? Wissen wir überhaupt, ob diese
Wesen für die Allgemeinheit sprechen können?«
»So wie wir?«, bemerkte Tatsuro trocken.
»Eher mehr, würde ich sagen. Es deutet einiges darauf
hin, dass die Gespräche an die ganze Jupiterbevölkerung
übertragen werden. Der ›Mann‹, den wir vor uns
sehen, ist ein Konstrukt, das die Mehrheitsmeinung
wiedergibt.«
»Also fasst er historische Entwicklungen
Weitere Kostenlose Bücher