Die Champagnerkönigin
beiden Frauen wurde noch größer, als sie durch die unendlich scheinenden Weinberge fuhren, wo zwischen dem satten Grün der Reben überall rote und grüne Trauben leuchteten, so saftig, so einladend, dass Clara ihren Fahrer am liebsten gebeten hätte anzuhalten, damit sie eine davon pflücken konnte. Das gibt’s doch gar nicht, dachte sie im nächsten Moment, als die Kutsche anhielt und der Fahrer, ein junger Bursche von vielleicht zwanzig Jahren, auf die nächstgelegene Rebzeile zusprang und gekonnt zwei schwer herabhängende Trauben abknipste. Mit einem Lächeln reichte er je eine der Trauben an Jo und sie.
»Merci!«, sagten beide wie aus einem Mund.
»Dass ein Mann meine Gedanken lesen kann, ist auch schon lange nicht mehr vorgekommen«, sagte Clara lachend und steckte sich eine der süßen Trauben in den Mund.
»Das hier müsste es sein«, sagte Josefine und schaute von dem Gebäude auf die Adresse, die Micheline Guenin in ihrem Brief genannt hat. Ihre Augen wurden beim Anblick des riesigen Hauses und der umliegenden Weinberge immer größer. »Wie im Paradies! Und dann das Haus … Alles ist so viel pompöser, als ich es mir vorgestellt habe. Schöner kann man wirklich nicht wohnen, oder?«
Clara, von der Fahrt nach Hautvillers noch völlig überwältigt, nickte beeindruckt. Auf einmal war sie sich ihrer Sache nicht mehr so sicher wie all die Tage zuvor. Konnte man in dieser verschwenderisch schönen Umgebung überhaupt unglücklich sein? Womöglich hatte Isabelle mit Berlin für immer abgeschlossen und würde ihr Kommen als unerwünschtes Eindringen in ihr neues Leben ansehen? Unwillkürlich begann sie zu flüstern: »Sollen wir wirklich so einfach hineinplatzen? Oder wäre es nicht besser, zuerst diese Madame Guenin aufzusuchen, damit sie uns wegen Isabelles Verfassung auf den neuesten Stand bringt?«
Doch noch während sie sprach, wurde das riesige Portal des Hauses aufgerissen, und es erschien eine ältere Dame mit rundlichem Gesicht und den lebhaftesten Augen, die Clara je gesehen hatte.
»Sie können nur Madame Gropius sein! Und eine Freundin haben Sie auch noch mitgebracht, mon Dieu , mir fällt ein Stein vom Herzen!« Bevor Clara sichs versah, wurde sie von der Frau herzlich umarmt. »Ich bin Micheline, die, die Ihnen den Brief geschrieben hat. Jetzt wird bestimmt alles wieder gut …«
Kurze Zeit später saßen sie beklommen in der Küche von Isabelles Haus. Es roch nach Gemüsesuppe und Kräutern, die an einer langen Schnur über dem Fenster zum Trocknen aufgehängt waren. Clara, die beim Kochen selbst gern würzige Kräuter verwendete, schnupperte. Rosmarin, Thymian und vielleicht auch Oregano? Der Duft war belebend, geradezu berauschend! Wie konnte Isabelle hier lange in trauriger Stimmung verweilen?
Während Micheline Guenin Wasser und Wein auf den Tisch stellte, versuchte Clara, sich Isabelle kochend am Herd vorzustellen. Die Unternehmertochter bei der Hausarbeit – dieses Bild wollte ihr nicht recht gelingen. Wo war Isabelle eigentlich?
»Sie ist oben in ihrem Zimmer, ich war gerade bei ihr. Ich versuche jeden Tag zwei- bis dreimal vorbeizuschauen, je nachdem, wie viel Zeit ich habe. Ghislaine, sie wohnt auf der anderen Straßenseite, kommt ebenfalls einmal täglich vorbei, um nach Isabelle zu sehen«, sagte die Nachbarin, noch bevor Clara ihre Frage auf Französisch formuliert hatte. »Aber auch Ghislaines Zeit ist begrenzt. Ihr gehört das Restaurant unten am Dorfplatz, und natürlich hat sie immer alle Hände voll zu tun.«
»Umso schöner finde ich es, dass Sie beide sich so gut um unsere Freundin gekümmert haben«, sagte Clara warmherzig. »Hätten wir eher Bescheid gewusst, wären wir früher gekommen. Wie geht es Isabelle inzwischen?«
Die Nachbarin zuckte mit den Schultern. »Immerhin verlässt sie mittlerweile ihr Bett hin und wieder für ein paar Stunden.«
Josefine und Clara schauten sich an. Das klang doch gut! Der nächste Satz der Nachbarin zerstörte allerdings ihre aufkeimende Hoffnung sogleich wieder.
»Aber glauben Sie nicht, dass sie am Leben teilnimmt! Ganz im Gegenteil, sie hat jedes bisschen Lebensfreude verloren und an nichts Interesse. Rebstöcke sind nicht wie Kartoffeln oder Äpfel! Diese wachsen von ganz allein heran. Aber unsere Reben sind wie kleine Kinder – sie fordern ständig unsere ganze Aufmerksamkeit, sie wollen gehätschelt und verwöhnt werden. Tag für Tag, Monat für Monat stellen sie uns vor neue Herausforderungen. Claude Bertrand, der
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