Die Chancellor
›Chancellor‹ darauf
gelangen können? Gewiß hob sie eine ungeheure Welle,
wenigstens hatte ich ein ähnliches Gefühl, bevor wir
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aufliefen. Nachdem ich die Lagerung der Felsen, die uns
umringen, genauer betrachtet habe, stelle ich mir die
Frage, wie wir von ihm wohl wieder loskommen wer-
den. Das Schiff liegt von hinten nach vorn zu gesenkt,
wodurch das Gehen auf dem Verdeck sehr schwierig
wird, und außerdem hat es sich mit der eingetretenen
Ebbe sehr auffällig nach Backbord geneigt. Robert Kur-
tis hat sogar befürchtet, daß es bei tiefer Ebbe kentern
würde; jetzt nimmt die seitliche Neigung aber nicht
weiter zu, und unsere Besorgnis ist verschwunden.
Um 6 Uhr morgens machen sich ziemlich heftige
Stöße bemerkbar. Sie rühren vom Besanmast her, der
nach seinem Bruch erst weggetrieben wurde und jetzt
wieder an die Breitseite der ›Chancellor‹ anschlägt. Zu-
gleich hören wir wiederholte Schreie und unterscheiden
mehrmals den Namen »Robert Kurtis«.
Wir blicken nach der Richtung hin, aus der die Rufe
zu kommen scheinen, und sehen einen Mann, der sich
an den Mastkorb klammert. Es ist Silas Huntly, den der
Sturz des Masts mitgerissen und ein Wunder vor dem
Tod errettet hat.
Robert Kurtis eilt seinem früheren Kapitän zu Hilfe
und bringt ihn, tausend Gefahren trotzend, glücklich an
Bord zurück. Ohne ein Wort zu sprechen, setzt sich Si-
las Huntly sofort in die entlegenste Ecke des Oberdecks.
Der Mann ist vollkommen passiv geworden; er zählt gar
nicht mehr mit.
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Nach manchen Anstrengungen gelingt es, den Mast
unter den Wind zu bringen, wonach er mit dem Schiff,
dessen Planken er nicht mehr bedroht, fest verbunden
wird. Vielleicht soll dieses Trümmerstück uns noch
Dienste leisten, wer kann es wissen?
Es ist nun völlig Tag geworden; die Nebel steigen.
Schon vermag der Blick den Horizont auf 3 Meilen Ent-
fernung zu erreichen, doch nichts zeigt sich, was einer
Küste ähnlich sähe. Nur im Norden taucht eine Art Ei-
land auf. Seine unregelmäßige Form verdankt es einer
launenhaften Aufhäufung von Felsmassen, die sich etwa
200 Faden von der Stelle, an der die ›Chancellor‹ stran-
dete, und zu einer Höhe von vielleicht 50 Fuß erhebt. Sie
muß also auch die stärkste Hochflut überragen. Ein sehr
schmaler, doch bei niedrigem Wasser gangbarer Weg er-
öffnet sich uns für den Notfall nach jenem Eiland. Dar-
über hinaus nimmt das Meer wieder eine dunklere Fär-
bung an. Dort ist tiefes Wasser; dort endet das Riff.
Eine schmerzliche Enttäuschung, gerechtfertigt
durch die Lage des Fahrzeugs, bemächtigt sich aller. Es
ist wirklich zu fürchten, daß diese Klippen mit keinem
benachbarten Land in Verbindung stehen.
In diesem Augenblick – es ist 7 Uhr – ist nun hel-
ler Tag und die Dunstmassen sind verschwunden. Voll-
kommen deutlich zeichnet sich der Horizont rund um
die ›Chancellor‹ ab, aber die Grenzlinie des Wassers und
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die des Himmels verschwimmen ineinander und das
Meer erfüllt den ganzen, weiten Raum.
Unbeweglich beobachtet Robert Kurtis den Ozean
und besonders im Westen. Mr. Letourneur und ich ste-
hen nah beieinander, achten auf seine geringsten Bewe-
gungen und erraten alle Gedanken, die sich in seinem
Gehirn jagen. Sein Erstaunen scheint groß zu sein, denn
er mußte uns in der Nähe von Land glauben, da das
Schiff von den Bermudas aus immer nach Süden getrie-
ben worden war, und doch ist kein Land in Sicht.
In diesem Augenblick verläßt Robert Kurtis das Ober-
deck, begibt sich auf der Schanzkleidung bis zur Strick-
leiter des Großmasts, erklettert diese bis zum Mastkorb
und von da aus an den Seilen noch höher hinauf, bis er
auf einer oberen Segelstange steht. Von dort aus schweift
sein Blick aufmerksam über den ganzen Umkreis, und
nach Verlauf einiger Minuten gleitet er an einem Tau bis
zu dem Barkholz herab und kommt zu uns zurück.
Wir sehen ihn fragend an.
»Kein Land!« sagt er sehr kalt.
Da tritt Mr. Kear vor und spricht in offenbar übler
Laune:
»Wo sind wir, Herr?«
»Das weiß ich nicht, mein Herr.«
»Das sollten Sie aber wissen!« erwidert ärgerlich der
Ölhändler.
»Möglich – aber ich weiß es nicht!«
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»Nun«, fährt Mr. Kear fort, »so hören Sie denn, daß
ich keine Lust habe, ewig auf Ihrem Schiff zu bleiben,
mein Herr, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie nun wei-
tersegeln!«
Robert Kurtis begnügte sich, mit
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