Die Chancellor
bleibt noch
sichtbar, das einen Durchmesser von 250 bis 300 Fuß
hat und dessen nördlichen Winkel die ›Chancellor‹ ein-
nimmt. Das Meer erscheint recht ruhig, und seine Wel-
len gelangen nicht bis zum Schiff; – glücklicher Um-
stand, denn da es ganz unbeweglich festliegt, würde es
ebenso wie eine Klippe gepeitscht werden.
Um halb 12 wird die Sonne, die bis dahin von einigen
Wolken verdeckt blieb, recht zur gelegenen Zeit sicht-
bar. Schon am Morgen gelang es dem Kapitän, einen
Stundenwinkel zu messen, jetzt bereitet er sich zur Auf-
nahme der Mittagshöhe, die er um 12 Uhr ganz genau
ermittelt.
Er begibt sich in seine Kabine, führt die nötigen Be-
rechnungen aus und kommt auf das Oberdeck zurück.
»Wir befinden uns«, meldet er hierüber, »unter 18 °
45 ʹ nördlicher Breite und 45 ° 53 ʹ westlicher Länge.«
Der Kapitän erläutert unsere Lage noch denjenigen,
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die mit der Bedeutung dieser Zahlen weniger vertraut
sind. Robert Kurtis sucht mit Recht nichts zu verheim-
lichen, er will, daß sich jeder darüber klar ist, was er un-
ter den gegebenen Umständen zu erwarten hat.
Die ›Chancellor‹ ist also unter 18 ° 45 ʹ nördlicher
Breite und 45 ° 53 ʹ westlicher Länge auf einem noch
auf keiner Seekarte verzeichneten Riff gescheitert. Wie
kann aber ein Riff in diesem Teil des Atlantischen Oze-
ans vorhanden sein, ohne daß man von ihm Kenntnis
hat? Sollte das Eiland erst von jüngerer Bildung und
durch irgendeine plutonische Erhebung entstanden
sein? Ich sehe wenigstens keine andere Erklärung jener
Tatsache.
Doch dem sei, wie es will, jedenfalls befindet sich das
Eiland mindestens 800 Meilen von Guyana, das ist das
nächstbenachbarte Land, entfernt. Die Eintragung des
Punkts auf der Karte hat das unzweifelhaft ergeben.
Die ›Chancellor‹ ist also bis zum 18. Breitengrad nach
Süden hinab gelangt, zuerst infolge der sinnlosen Hart-
näckigkeit Silas Huntlys, nachher durch den Nordwest-
sturm, der sie zum Entfliehen nötigte. Die ›Chancellor‹
hat demnach noch 800 Meilen weit zu segeln, bevor sie
das nächstgelegene Land anlaufen kann.
So gestaltet sich unsere Lage. Sie ist wohl ernst, doch
machte die offenherzige Mitteilung des Kapitäns kei-
nen üblen Eindruck, – wenigstens für den Augenblick.
Welche neuen Gefahren hätten uns auch so bedrohlich
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erscheinen können, nachdem wir dem Feuer und der
Explosion so glücklich entgangen waren? Jedermann
vergißt, daß der Kielraum mit Wasser gefüllt ist, daß
das rettende Land uns so fern liegt, daß die ›Chancel-
lor‹, wenn sie wieder flott wird, leicht sinken kann . . .
Jetzt stehen die Gemüter noch unter dem Eindruck des
jüngsten Schreckens und neigen in einem Augenblick
der Ruhe weit mehr zum Vertrauen hin.
Was wird Robert Kurtis nun zunächst unternehmen?
Ganz einfach das, was der gesunde Menschenverstand
empfiehlt: das Feuer vollständig löschen, die ganze
Fracht, oder doch einen Teil über Bord werfen, das Kolli
mit Pikrat nicht zu vergessen, das Leck verschließen
und nach Erleichterung des Schiffes dieses unter Mit-
hilfe der Flut wieder flottzumachen suchen.
17
Fortsetzung 30. Oktober. – Bei einem unsere jetzige Lage
betreffenden Gespräch mit Mr. Letourneur habe ich
ihm die Versicherung geben zu können geglaubt, daß
unser Aufenthalt auf dem Riff nur von kurzer Dauer
sein werde, wenn uns die Umstände nur irgend begüns-
tigen. Mr. Letourneur scheint meine Ansicht aber nicht
zu teilen.
»Im Gegenteil«, sagt er, »ich glaube, wir werden auf
diesem Felsen lange Zeit zurückgehalten bleiben.«
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»Und warum?« erwidere ich; »einige hundert Bal-
len Baumwolle über Bord zu werfen ist doch weder eine
lange, noch allzu beschwerliche Arbeit, die in 2 bis 3 Ta-
gen recht gut geschehen sein kann.«
»Gewiß, Mr. Kazallon, das möchte schnell genug ge-
hen, wenn sich die Mannschaft nur heute schon ans
Werk machen könnte. Vorläufig ist es absolut unmög-
lich, in den Kielraum der ›Chancellor‹ hinabzusteigen,
denn die Luft darin ist völlig irrespirabel, und wer weiß,
ob nicht mehrere Tage vergehen, ehe sich das ändert, da
die mittleren Lagen der Fracht noch immer in Brand
sind. Übrigens, wenn wir nun wirklich Herr des Feuers
geworden sind, werden wir deshalb auch weiter schiffen
können? Nein; erst muß die Eintrittsstelle des Wassers,
die eine ziemliche Ausdehnung haben mag, verschlossen
werden, und zwar
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