Die Chirurgin
atmete die feuchten Gerüche des Südens ein. Obwohl er noch nie in Savannah gewesen war, hatte er von seinem besonderen Charme gehört, von seinen prächtigen alten Häusern, seinen schmiedeeisernen Bänken, der Kulisse des Films Mitternacht im Garten von Gut und Böse. Doch an diesem Abend war er nicht auf der Suche nach touristischen Sehenswürdigkeiten. Er war unterwegs zu einer bestimmten Adresse im Nordosten der Stadt. Es war ein attraktives Viertel, das überwiegend aus kleinen, aber gepflegten Einfamilienhäusern mit Veranden, eingezäunten Vorgärten und Bäumen mit weit ausladenden Ästen bestand. Schließlich hatte er die Ronda Street gefunden und hielt vor dem Haus an.
Drinnen brannte Licht, und er konnte das blaue Schimmern eines Fernsehschirms erkennen.
Er fragte sich, wer dort jetzt wohnte und ob die jetzigen Bewohner die Geschichte ihres Hauses kannten. Wenn sie abends das Licht löschten und ins Bett gingen, dachten sie dann je über das nach, was in eben diesem Zimmer geschehen war? Wenn sie in der Dunkelheit lagen, lauschten sie dann auf die Echos des Schreckens, die in diesen Mauern noch immer widerhallten?
Eine Silhouette ging am Fenster vorbei – es war eine Frau, schlank und mit langen Haaren. Ganz wie Catherine.
Jetzt sah er die Szene vor seinem geistigen Auge. Den jungen Mann, der auf der Veranda stand und an die Haustür klopfte. Die Tür wurde geöffnet, und goldenes Licht ergoss sich nach draußen in die Dunkelheit. Catherine stand in der Tür, umringt von einem Kranz dieses Lichts, und sie bat den jungen Kollegen herein, den sie aus dem Krankenhaus kannte. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, welche entsetzlichen Dinge er mit ihr vorhatte.
Und die zweite Stimme, der zweite Mann – wie passt er ins Bild?
Moore saß lange dort im Wagen und beobachtete das Haus, betrachtete eingehend die Fenster und das Strauchwerk. Er stieg aus und ging ein Stück den Gehsteig entlang, um einen Blick hinter das Haus zu werfen. Die Hecke war üppig und dicht, und er konnte nicht bis zum Garten hinter dem Haus sehen.
Auf der anderen Straßenseite wurde eine Außenbeleuchtung eingeschaltet.
Er drehte sich um und sah eine kräftige Frau hinter einem Fenster stehen, die ihn unverwandt anstarrte. Sie hielt einen Telefonhörer in der Hand.
Er stieg wieder in seinen Wagen und fuhr davon. Da war noch eine andere Adresse, die er aufsuchen wollte. Sie lag in der Nähe des State College, einige Kilometer weiter südlich. Er fragte sich, wie oft Catherine wohl genau diese Straße entlanggefahren war und ob dieser kleine Pizzaservice auf der linken Seite oder diese chemische Reinigung auf der rechten sie zu ihren Kunden gezählt hatten. Wo er auch hinschaute, überall glaubte er ihr Gesicht zu sehen, und das beunruhigte ihn. Er wusste, was das bedeutete: Er hatte es nicht geschafft, seine Gefühle aus den Ermittlungen herauszuhalten, und das gereichte keinem der Beteiligten zum Vorteil.
Er erreichte die Straße, nach der er gesucht hatte. Nach einigen Häuserblocks hielt er an der Stelle an, wo das Haus hätte sein sollen. Was er fand, war nur ein unbebautes, von Unkraut überwuchertes Grundstück. Er hatte erwartet, hier ein Gebäude vorzufinden, das einer Mrs. Stella Poole, einer 58-jährigen Witwe, gehörte. Vor drei Jahren hatte Mrs. Poole die oberen Räume ihres Hauses an einen angehenden Chirurgen namens Andrew Capra vermietet, einen ruhigen jungen Mann, der seine Miete stets pünktlich bezahlt hatte.
Er stieg aus und blieb auf dem Gehsteig stehen, über den Andrew Capra mit Sicherheit gegangen war. Er blickte die Straße auf und ab, in der Capra gewohnt hatte. Sie war nur ein paar Häuserblocks vom State College entfernt, und er nahm an, dass in dieser Straße viele Wohnungen an Studenten vermietet waren – Mieter auf Zeit, die vielleicht gar nichts von der Geschichte ihres berüchtigten Nachbarn wussten.
Ein Windstoß wirbelte die Waschküchenluft durcheinander, und die Düfte, die ihm nun in die Nase stiegen, gefielen ihm gar nicht. Es war der feuchte Geruch der Fäulnis. Er blickte zu einem Baum in Andrew Capras ehemaligem Vorgarten auf und sah ein Büschel Louisiana-Moos von einem Ast herabhängen. Er erschauerte und dachte: Was für ein merkwürdiges Gewächs. Er erinnerte sich an ein bizarres Halloween-Erlebnis aus seiner Kindheit, als ein Nachbar die glorreiche Idee gehabt hatte, die von Tür zu Tür ziehenden Kinder abzuschrecken, indem er einer Vogelscheuche einen Strick um den Hals legte
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