Die Chorknaben
wie das Muhen einer Kuh. Es kam von drinnen. Aus dem Dunkel.
Schließlich bewegte sich Sam Niles. Er ließ sich auf die Knie nieder und kroch, Taschenlampe in der Linken, Revolver in der Rechten, in die kleine Wohnung. Bereit, die Taschenlampe anzuknipsen, und auch bereit zu schießen, kroch er auf das Schlafzimmer zu, das direkt hinter der Küche lag.
Sam Niles roch Blut. Und er spürte, wie seine Haut am Brustkasten und am Rücken und am Hals leicht zu zucken begann, als der ›Stöhnende Mann‹ wieder anfing. Diesmal jedoch wesentlich lauter und jammernd:
»Mmmmmmnrnrnmrnrnm. Mmmuuuuuuuuuuhhhhhhhh. Aaaaaaaaaahhhhhhhh!« Und dann ließ Harold Bloomguard, der auf Zehenspitzen hinter Sam durch die Küche geschlichen kam, versehentlich seine Taschenlampe fallen, so daß sie durch den Aufprall auf dem Boden anging. Sam Niles sprang fluchend auf und stürzte auf die Tür zu. Der Lauf seiner Waffe folgte dem Strahl seiner Taschenlampe durch das Dunkel. Und dann sah er den ›Stöhnenden Mann‹.
Er saß in seinem Bett, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Bis auf seine Unterhose war er nackt. Alle paar Sekunden fuhr der Wind in die schmutzigen, ausgefransten Vorhänge, so daß das Mondlicht über seinen kalkweißen Körper schwappte, der sonst nur im Lichtkegel der Taschenlampe lag. Er hielt eine 9 Millimeter-Luger in seiner linken Hand. Er hatte die Waffe zum ersten und letzten Mal benutzt, indem er sie sich gegen das weiche Fleisch zwischen Kehlkopf und Kieferknochen unter seinem Kinn gepreßt und abgedrückt hatte.
Die Schädeldecke des ›Stöhnenden Mannes‹ war über das Bett und den Fußboden vor dem Bett verteilt. Die Wand, gegen die er lehnte, war von Gehirnteilchen und Blutspritzern übersät. Sein Gesicht war größtenteils noch intakt; es war im Mondlicht lediglich von kleinen roten Rinnsalen durchzogen, und seine Augen waren blutüberströmt. Das Unglaublichste an dem Ganzen war nicht einmal, daß der ›Stöhnende Mann‹ noch Geräusche von sich geben konnte, sondern daß er die Pistole, mit der er sich getötet hatte, noch fest mit einer Faust seiner über der Brust verschränkten Arme umklammerte. Er bewegte sie im selben Rhythmus wie das Stöhnen hin und her.
»O Gott, nein, nein, nein«, stöhnte Sam Niles, während Harold Bloomguards Unterkiefer fast auf den Fußboden klappte, als er den ›Stöhnenden Mann‹ anstarrte, dessen Hand mit der Waffe mit dem Klatschen der Vorhänge im Wind hin und her schwankte, hin und her, während er stöhnte: »Mmmmmmmmm. Mmmuuuuuuhhhhhhhh. Aaaaaaaaahhhhhhhhh.« Und Sam Niles wußte, daß er nie getan hätte, was der verängstigte Harold Bloomguard als nächstes tat. Er trat nämlich langsam auf das Bett zu – die Schädelknochenteilchen knirschten unter seinen Ledersohlen – und blieb vor dem ›Stöhnenden Mann‹ stehen, in dessen Hand immer noch die Luger hin und her schwankte.
Sam Niles würde für immer den Geruch des Blutes riechen können und den Wind hören, das Knattern der Vorhänge, das Knirschen von Harolds Sohlen auf den Knochenteilchen und das Klappern von Harolds Zähnen, während seine Hand sich zitternd auf die Luger zubewegte, die der ›Stöhnende Mann‹ vor seiner Brust hielt, während er stöhnte: »Mmmmmmmmmmmm. Mmmuuuuuuuuhhhhhhh. Mmmmmmmmmuuuuuuuuutterr!«
Und dann sprach Harold Bloomguard zum ›Stöhnenden Mann‹. Er sagte: »Ist ja schon gut; ist ja schon gut. Schön still sein jetzt. Ich bin ja schon da. Ist ja schon gut.« Harold Bloomguard ergriff das Handgelenk des Stöhnenden Mannes, worauf das Stöhnen sofort aufhörte. Die Faust entspannte sich, und die Pistole fiel aufs Bett. Die blutigen Augen schlossen sich und quollen dabei von Blut über. Ohne ein weiteres Geräusch von sich zu geben, starb der ›Stöhnende Mann‹.
Lange blieben die beiden Polizisten reglos stehen, bis Harold sein Zittern wieder unter Kontrolle brachte und sagte: »Er hat nach seiner Mutter gerufen. Warum rufen so viele nach ihrer Mutter?«
»Er war doch tot!« platzte Sam Niles heraus. »Er war doch schon lange, bevor wir gekommen sind, tot!«
»Er wollte nur von einem menschlichen Wesen berührt werden«, sagte Harold Bloomguard. »Ich hatte solche Angst. Solche Angst!« Sam Niles wandte sich ab und ließ Harold Bloomguard im Dunkel allein mit dem ›Stöhnenden Mann‹ zurück; er mußte einen Kriminalbeamten verständigen, damit dieser den Fall übernahm. Er wechselte für den Rest des Abends kein einziges Wort mehr mit Harold
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