Die Chronik der Drachenlanze 1 + 2
in Trance auf sie zu. Die Statue stellte eine Frau in fließenden Gewändern dar. Ihr Marmorgesicht trug einen Ausdruck strahlender Hoffnung, der sich mit Traurigkeit vermischte. Ein seltsames Amulett hing um ihren Hals.
»Das ist Mishakal, die Göttin der Heilkunst, der ich diene«, sagte ihre Mutter. »Höre ihr zu, meine Tochter.«
Goldmond stand direkt vor der Statue und bewunderte ihre Schönheit. Doch sie schien unfertig, unvollständig. Irgend etwas fehlt an der Statue, stellte Goldmond fest. Die marmornen Hände der Frau waren gekrümmt, als ob sie einen langen schlanken Stab halten würden, aber sie waren leer. Unbewußt, nur aus dem Bedürfnis heraus, diese Schönheit zu vollenden, legte Goldmond ihren Stab in die Marmorhände.
Er begann in einem sanften blauen Licht zu glühen. Goldmond wich erschrocken zurück. Das Licht des Stabes wurde immer heller. Goldmond bedeckte ihre Augen und fiel auf die Knie. Eine herrliche und liebende Kraft erfüllte ihr Herz. Sie bedauerte bitterlich ihren Zorn.
»Schäme dich nicht wegen deiner Zweifel, geliebte Jüngerin. Es war dein Zweifel, der dich zu uns führte, und es ist dein Zorn, der dich durch die vielen vor dir liegenden Prüfungen tragen wird. Du suchst die Wahrheit, und hier wirst du sie erhalten.
Die Götter haben sich nicht von den Menschen abgewandt – es ist der Mensch, der sich von den wahren Göttern abwendet. Krynn steht vor seiner größten Prüfung. Die Menschen brauchen die Wahrheit mehr denn je. Du, meine Jüngerin, mußt den Menschen die Wahrheit und die Macht der wahren Götter zurückbringen. Es ist Zeit, das Gleichgewicht des Universums wiederherzustellen. So wie sich die Götter des Guten wieder den Menschen zuwenden, machen es auch die Götter des Bösen – sie kämpfen ständig um die Seele der Menschen. Die Königin der Finsternis ist zurückgekehrt und trachtet danach, sich wieder frei in diesem Land zu bewegen. Drachen, einst in die unteren Regionen verbannt, sind wieder aufgetaucht.«
Drachen, dachte Goldmond verträumt. Sie konnte sich nur schwer konzentrieren und die Worte fassen, die durch ihren Geist fluteten.
»Um die Mächte der Finsternis bekämpfen zu können, brauchst du die Wahrheit der Götter – dies ist das größte Geschenk, von dem man dir bereits erzählt hat. Unter diesem Tempel in den Ruinen ruhen die Scheiben von Mishakal; kreisförmige Scheiben aus glänzendem Metall. Finde die Scheiben, und du kannst meine Macht aufrufen, denn ich bin Mishakal, Göttin der Heilkunst.
Dein Weg wird nicht einfach sein. Die Götter des Bösen kennen und fürchten die Macht der Wahrheit. Der uralte und mächtige schwarze Drachen Khisanth, unter den Menschen als Onyx bekannt, bewacht die Scheiben. Seine Höhle liegt in der
zerstörten Stadt Xak Tsaroth unter uns. Gefahr liegt vor dir, wenn du dich entscheidest, die Scheiben zurückzuerobern. Darum segne ich diesen Stab. Gehe mit ihm kühn um, wanke niemals, und du wirst dich behaupten.«
Die Stimme erstarb. In diesem Moment vernahm Goldmond Flußwinds Todesschrei.
Tanis betrat den Tempel, und ihm war, als ob er zurück in die Erinnerung schritt. Die Sonne schien durch die Bäume von Qualinost. Er und Laurana und ihr Bruder Gilthanas lagen am Flußufer, lachten und erzählten sich nach einem kindlichen Spiel ihre Träume. Tanis hatte wenige glückliche Tage in seiner Kindheit erlebt – der Halb-Elf hatte früh gelernt, daß er sich von den anderen unterschied. Aber jener Tag war ein Tag mit goldenem Sonnenschein und warmer Freundschaft gewesen. Die Erinnerung an diesen Frieden durchströmte ihn und linderte seinen Kummer und sein Entsetzen.
Er wandte sich zu Goldmond, die schweigend neben ihm stand. »Was stellt dieser Ort dar?«
»Das ist eine Geschichte, die später erzählt werden muß«, antwortete Goldmond. Sie führte ihn über den schimmernden Mosaikboden zur glänzenden Marmorstatue der Mishakal. Der blaue Kristallstab warf sein helles Licht durch den ganzen Raum.
Aber gerade als Tanis vor Staunen seinen Mund öffnen wollte, verdunkelte ein Schatten den Raum. Er und Goldmond wandten sich zur Tür. Caramon und Sturm trugen Flußwinds Körper auf der Bahre in den Tempel. Flint und Tolpan – der Zwerg sah alt und müde aus, der Kender ungewöhnlich bedrückt – gingen zu beiden Seiten der Trage, eine seltsame Ehrenwache. Die düstere Prozession bewegte sich langsam vorwärts. Hinter ihnen schritt Raistlin, seine Kapuze weit über den Kopf gezogen, die
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