Die Chronik der Drachenlanze 1 + 2
zusammen, als er die Nachtluft einatmete. Der Enge des Brunnens entronnen, breitete der Drachen seine Flügel aus, wischte Sterne aus und verdunkelte
den Mondschein. Beide Flügel waren mit weißen Klauen versehen, die im Licht von Lunitari blutrot schienen.
Eine Furcht, die sich Tanis niemals hatte vorstellen können, schnürte seine Eingeweide zusammen. Sein Herz klopfte schmerzhaft, sein Atem stockte. Er konnte nur voller Entsetzen und Ehrfurcht und Staunen die tödliche Schönheit des Tieres betrachten. Der Drache kreiste höher und höher in den Nachthimmel. Gerade als die lähmende Furcht von Tanis im Schwinden war und er nach Pfeil und Bogen suchte, sprach der Drache.
Er sprach nur ein Wort – ein Wort in der Sprache der Magie –, und eine dichte, schreckliche Dunkelheit fiel vom Himmel und ließ alle erblinden. Tanis verlor sofort jegliches Gespür, wo er sich befand. Er wußte nur, daß über ihm ein Drache flog und angreifen wollte. Er war wehrlos, konnte sich nicht verteidigen, nur sich ducken und auf dem Boden kriechen und verzweifelt versuchen, sich zu verstecken.
Seines Sehsinns beraubt, konzentrierte sich der Halb-Elf auf sein Gehör. Das kreischende Geräusch hatte mit der Dunkelheit nachgelassen. Tanis konnte das langsame sanfte Schlagen der ledernen Flügel des Drachen hören und wußte, daß er kreiste und immer höher stieg. Dann war nichts mehr zu hören. Der Halb-Elf stellte sich einen gewaltigen schwarzen Raubvogel vor, der wartend umherschwebte.
Dann vernahm er ein leises, raschelndes Geräusch, das Geräusch von zitterndem Laub, wenn sich der Wind vor einem Sturm erhebt. Das Geräusch wurde lauter und lauter, bis es das Fegen des Windes war, wenn der Sturm losschlägt, und dann war es das Toben eines Orkans. Tanis drückte seinen Körper dicht an die zerbröckelte Mauer und verdeckte seinen Kopf mit den Armen.
Der Drache griff an.
Khisanth konnte durch die Dunkelheit, die er selbst heraufbeschworen hatte, nichts erkennen, aber er wußte, daß sich die Eindringlinge noch im Hof befanden. Seine Lakaien, die Drakonier, hatten ihn gewarnt, daß eine Gruppe mit dem blauen Kristallstab
durch das Land zog. Lord Verminaard wollte diesen Stab, wollte ihm den Stab zurAufbewahrung geben, damit er niemals von Menschen gesehen würde.Aber er hatte ihn verloren, und Lord Verminaard war alles andere als erfreut gewesen. Er mußte ihn sich zurückholen. Darum hatte Khisanth einen Moment gewartet, bevor er die Dunkelheit heraufbeschworen hatte, die Eindringlinge aufmerksam betrachtet und den Stab gesucht. Wahrnehmend, daß der Stab sich schon außerhalb seiner Sichtweite befand, war er hocherfreut. Er brauchte nur noch zu zerstören.
Der angreifende Drache ließ sich vom Himmel fallen, seine ledernen Flügel krümmten sich zurück wie die Klinge eines schwarzen Dolches. Er flog direkt auf den Brunnen zu, wo er die Eindringlinge, um ihr Leben rennend, gesichtet hatte. Da Khisanth wußte, daß sie von Drachenangst gelähmt waren, war er sich sicher, sie alle auf einen Schlag vernichten zu können. Er öffnete sein mit Reißzähnen bestücktes Maul.
Tanis hörte den Drachen immer näher kommen. Das mächtige flatternde Geräusch wurde lauter und lauter, dann war einen Moment nichts zu hören. Ein keuchendes Geräusch folgte, als ob Luft in einen aufgerissenen Schlund gesogen würde, dann ein fremdes Geräusch, das ihn an Dampf erinnerte, der einem kochenden Kessel entweicht. Etwas Flüssiges platschte neben ihm auf. Er hörte Steine splittern und einkrachen und brodeln. Tropfen der Flüssigkeit fielen auf seine Hand, und er stöhnte auf, als ihn ein sengender Schmerz durchdrang.
Dann hörte Tanis einen Schrei. Es war eine tiefe männliche Stimme – Flußwind. So schrecklich, so schmerzerfüllt, daß Tanis seine Fingernägel in die Handflächen grub. Das Schreien hielt an und ging dann in ein Stöhnen über. Tanis spürte das Brausen eines riesigen Körpers, der an ihm in der Dunkelheit vorbeifegte. Die Steine, an die er seinen Körper drückte, bebten. Dann wurde das Vibrieren immer schwächer, je tiefer der Drache in die Tiefen des Brunnens tauchte. Schließlich war der Boden wieder ruhig.
Tanis öffnete die Augen. Die Dunkelheit war verschwunden. Die Sterne und die Monde funkelten im Himmel. Einen Moment lang konnte Tanis nur noch atmen. Dann erhob er sich und lief auf einen dunklen Umriß zu, der auf dem steinigen Hof lag.
Tanis war der erste, der den Körper des Barbaren erreichte.
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