Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
Paxe ernst.
Sorren überlegte, ob dieses Schwert jemals getötet haben mochte. Die Vorstellung ließ sie erschaudern. Sie schloß die Augen, zwang sich mit allen ihren Kräften in den Norden, als wirke die Gegenwart dieses Schwertes einen Zauber, der ihr helfen konnte, dort zu sein.
Sie war dort. Sie war der Vogel, flog über die Bergkämme – nur waren dies nicht die Berge, nicht die mächtigen grauen Kuppen, an die sie sich gewöhnt hatte. Diese Berge waren rot. Sie erinnerten sie an den Tanjo, aber wo der Stein des Tanjo geformt und poliert war, war hier das Gestein rauh und zerschrundet von Wind und Regen und Frost. Schnee lag auf den Gipfeln. Der Vogel Sorren glitt tiefer hinab und sah, daß Sommer war. Sie erspähte Grün, Häuser, eine Windmühle – sie schwamm auf den Luftströmen zwischen zwei hohen Bergketten – und da unten lag ein Dorf.
Sie stürzte tiefer, bis sie über dem Dorf schweben blieb. Langsam trieb sie dahin, unsichtbar wie eine Musik, und eine Straße hinab, die anscheinend die Hauptstraße des Dorfes war. An einer Stelle lag ein großer Lehmplatz – ein Waffenhof, dachte sie – mit Menschen darauf.
Die Menschen sprachen miteinander, aber ihr Akzent war fremdartig, und Sorren konnte sie nicht verstehen. Manche trugen Waffen, Holzmesser wie jene, die Paxe und ihre Soldaten benutzten. Ein Mann ragte aus der Menge hervor. Er stand in der Mitte des Platzes, hielt die Hände in die Hüften gestemmt, die Haltung eines Lehrers, dachte sie. Er hatte Haar von drei Farben, und es war mit einem roten Schal aus der Stirn gebunden – eine shariza, dachte Sorren –, und dann brach die Vision abrupt ab.
Sie kehrte in die Gegenwart zurück und merkte, daß Paxe ihr das Schwert aus den Händen genommen hatte. Ihre Knie zitterten, und die Hofmeisterin fing sie auf und ließ sie sanft auf den Boden nieder. »Was hast du gesehen?« fragte sie. »War es die Burg?«
»Nein.« Sorren schluckte Speichel hinunter. Hals und Lungen schmerzten, als habe sie wahrhaftig die Luft der Berge geatmet. »Nein. Berge – aber andere Berge. Rote!« Und sie beschrieb die Berge.
Paxe hatte den Arm um sie gelegt und hörte zu. »Das sieht mir ganz nach den Roten Bergen aus«, murmelte sie, als Sorren die Färbung und die Höhe der schneebedeckten Ketten beschrieb. »Was hast du sonst noch gesehen, chelito?«
Sorren sagte: »Einen Platz. Ein Dorf in den Bergen. Und einen Mann, der auf einem Waffenhof Unterricht erteilte. Er trug die shariza.« Wieder schloß sie die Augen und versuchte Einzelheiten aus ihrer Erinnerung zu pressen. »Er hatte Kleider an wie die, die du im Hof trägst, und sein Hemd hatte ein Muster, ein galoppierendes Pferd – wie auf dem Batto-Wappen.«
»Was für Unterricht hat der Mann erteilt?«
»Ich sah hölzerne Messer.« Sie mühte sich ab, die Erinnerung zurückzurufen, und sie hatte gleichzeitig Angst, sich wieder in den Vogel Sorren zu verwandeln. »Diesen Ort habe ich noch nie zuvor gesehen. Was hat mich dazu bewogen, dorthin zu gehen? Was war das, was glaubst du?«
Paxe sagte: »Ich weiß es nicht. Es kann überall in den Roten Bergen gewesen sein. Vielleicht Tors Rest. Sogar Vanima.«
Sorren fuhr herum. »Vanima?«
Paxes Lippen lächelten halb. »Ich hab's nicht so gemeint, chelito. Ich glaube, das Schwert hat dich irgendwo hingeführt, wo es einst gewesen ist, aber ich kann nicht erraten, wo.«
»Ich habe aber einen Cheari gesehen!«
»Vielleicht hast du das«, sagte Paxe und fuhr Sorren mit dem Daumen über das Rückgrat hinab. »Aber es gibt keine Möglichkeit, das sicher herauszufinden.«
Es sei denn, ich frage die Hexenleute, dachte Sorren.
Paxe nahm das Schwert von den Bodenmatten, schlug es in die Seide ein und legte es zurück in die Truhe. Sorren beobachtete, wie gekonnt sie es tat. Paxe hat einmal einen Cheari gekannt. Eine Frage wollte sich auf ihren Lippen formen. Sie zögerte und sagte dann: »Glaubst du, es sind noch welche übrig?«
Paxe verstand. »Nein«, sagte sie. »Jedenfalls hoffe ich, daß nicht. Die Welt ist über sie hinausgewachsen. Die Welt hat sich verändert.«
Nein, dachte Sorren, und ihre Hände krampften sich zusammen. Sie hat sich nicht so sehr geändert.
Sie hob die Karten von der Stelle auf, wo sie sie neben dem Tisch niedergelegt hatte. »Ich hab' das da zu Marti Hok mitgenommen, sie wollte sie sehen«, erklärte sie.
»Und was hält sie davon?« fragte Paxe.
»Sie sagte, ich sollte in den Tanjo gehen und lernen, eine Hexe zu sein. Sie
Weitere Kostenlose Bücher