Die Chroniken der Nebelkriege 1: Das Unendliche Licht
stark gegen die Wand gepresst, dass ihm das Atmen schwer fiel.
»Wer wagt es, uns zu rufen?«, donnerte einer der sechs Winde. Direkt vor dem Däumlingszauberer wallte ein Gesicht auf, groß wie ein Scheunentor, dessen Mienenspiel herrisch wie ein Orkan wirkte. Der bauschige Wolkenbart schien mit Eiskristallen durchsetzt zu sein, die Haare glichen Rauch im Sturm und die Augen blitzten wie Wetterleuchten am Horizont.
»Ich begrüße dich, kalter Nordwind!«, brüllte Eulertin gegen das Tosen an. »Du solltest wissen, wer vor dir steht.«
»Du wagst es, an diese heilige Stätte zu kommen, Däumlingszauberer?«, grollte die unheimliche Gestalt schwer.
»Ich bin gekommen«, rief der kleine Magier, »um eine Schuld einzufordern.« Ein gewaltiges Donnern erfüllte die Grotte und es wurde mit einem Mal bitterkalt. Kai erwartete, jeden Augenblick Schneeflocken zu sehen.
»Was willst du?«, brüllte der Nordwind.
»Das Herz der nachtblauen Stille!«, rief Eulertin mit gebieterischer Stimme. Wütendes Getöse brach hinter dem Nordwind los. Dort enthüllten sich weitere Gesichter als stürmische Schemen. Die Winde schienen aufgebracht.
»Du überraschst mich, Däumlingszauberer. Aber du verlangst zu viel!«, sprach der Nordwind mit rollender Stimme. »Ich kann dir das Herz nicht geben. Ich wache nicht allein darüber.«
»Ich fordere es nicht für mich«, erklärte der Magister. »Ich bitte um Hilfe für meinen Schüler. Das Tier wütet in ihm. Es muss zum Schweigen gebracht werden, sonst stirbt er.«
»Wenn du schon von dem Herz weißt«, säuselte eine andere Windstimme, »wirst du sicher auch wissen, dass wir versprochen haben, es niemandem zu geben.« Eine weitere Luftgestalt schob sich vor den Zauberer. Sie besaß ein Frauengesicht mit wallendem Nebelhaar und hochmütigen Augen.
»Ich begrüße dich, Böe des Ostens«, antwortete der Däumling freundlich. »Sicher verzeihst du mir, wenn ich dich in Anbetracht der Umstände korrigiere. Genau genommen habt ihr einst gelobt, das Herz der nachtblauen Stille nie wieder einem Sterblichen auszuhändigen, der seine Macht missbraucht. Das ist hier nicht der Fall. Es geht, im Gegenteil, darum, großes Unheil zu verhindern.«
Sichtlich überrascht fauchte die Böe des Ostens.
Ein drittes Wolkengesicht glitt heran. Es war hohlwangig und besaß tief eingesunkene Triefaugen, die sich schwach unter einer von Sorgen umwölkten Stirn abzeichneten. »Unheil verhindern?«, ächzte der Windgeist mit schwacher Säuselstimme und starrte kraftlos zu Kai herüber. »Ist der Junge all die Mühe denn überhaupt wert?« »Oh ja, hochgeachtete Flaute, ich denke das ist er«, antwortete der Däumling. Die Flaute wollte etwas erwidern, doch müde zog sie sich wieder zurück. Stattdessen erhob der Nordwind seine schneidende Stimme.
»Wie ich schon sagte, Däumlingszauberer. Das kann ich nicht allein entscheiden. Wir müssen uns beraten.«
Unter Geheul zogen sich die sechs Winde zurück und sogleich stoben wieder die Sylphen, Windsbräute, Luftikusse und Säuselgeister durch die Grotte.
Kai stemmte sich mit aller Kraft gegen das Brausen der aufgebrachten Windgeister und trat besorgt an die Seite des Magisters. »Wie stehen unsere Chancen?« Eulertin wandte sich erschöpft zu ihm um und atmete schwer. »Der eisige Nordwind ist mir verpflichtet. Die Flaute beugt sich erfahrungsgemäß seinem Willen. Die Böe des Ostens wird vermutlich gegen uns stimmen. Ebenso wie die Steife Brise. Sie bilden gern eine Allianz. Es kommt also auf den stürmischen Westwind und den warmen Südwind an. Man weiß nie, wie sie gelaunt sind.«
Kai nickte, wich einem Luftikus aus und trat wieder zur Felswand. In diesem Moment kehrten die sechs Winde zurück. Heulend schälte sich über dem Däumling das sturmumwölkte Gesicht des Nordwindes aus der Luft.
»Wir konnten uns nicht entscheiden«, fauchte er mit Eisesstimme und starrte finster zu Kai herüber. »Drei von uns sind bereit, dem Knaben zu helfen, drei von uns sind dagegen. Der Junge soll daher zeigen, ob er würdig ist, die Gunst des Herzens zu erlangen. Wir werden ihn prüfen!«
Das Herz der nachtblauen Stille
Kai und der Däumiingszauberer durchschritten weiträumige Hallen und enge Klüfte, die sie immer tiefer ins Klippenmassiv hineinführten. Die meisten der Höhlen waren in völlige Finsternis gehüllt. Dort half ihnen nur noch das blaue Licht am Ende von Eulertins Zauberstab weiter. Andere wurden von hellen Lichtlanzen beschienen, die über ihnen
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